1. Situativer Kontext: Präventionssetting Arbeitswelt
Die Lebens- und Arbeitswelt in den Betrieben und den Unternehmen stellt das größte Präventionssetting sowohl für Maßnahmen im Rahmen der Verhaltens- als auch der Verhältnisprävention dar. Schon heute sind Fachärztinnen und Fachärzte für Arbeitsmedizin sowie Fachärztinnen und -ärzte mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin„ (kurz: „Betriebsärzte„) im Rahmen der gesetzlich verankerten arbeitsmedizinischen Vorsorge sowie der Maßnahmen zur Förderung der betrieblichen Prävention in der Lage, über 45 Millionen arbeitende Menschen anzusprechen und für präventivmedizinische Maßnahmen zu sensibilisieren oder gar zu gewinnen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weltweit zu verzeichnenden Zunahme von chronischen und zivilisationsbedingten Erkrankungen in den modernen Industrienationen gehört es zu der Rolle von Betriebsärzten sowohl auf gesundheitsgerechte, salutogene Lebens- und Arbeitsbedingungen hinzuwirken als auch die Beschäftigten in den Unternehmen zu befähigen,
die individuelle Kontrolle über ihre Gesundheit zu erhöhen und dadurch ihre Gesundheit aktiv zu fördern [1].
Die Arbeitsmedizin in Wissenschaft und Praxis ist darüber hinaus eine integrierende Schnittstelle zwischen präventiver Gesundheitsförderung, ambulanter Versorgung und berufsfördernder Rehabilitation, die für alle an Prävention, Versorgung und Wiedereingliederung beteiligten Gesundheitsexperten eine koordinierende Plattform bietet. Sowohl im Jahr 2012 der 115. Deutsche Ärztetag [2] als auch im Jahr 2018 der 121. Deutsche Ärztetag [3] haben darauf hingewiesen, dass den Betriebsärzten eine wichtige Lotsenfunktion für die medizinische Prävention zukommt und deren Kompetenzen nicht nur im Feld des Arbeitsschutzes zwingend erhalten und genutzt werden sollen. Die Delegierten hatten sich zudem bereits 2012 für regionale sektorübergreifende Konzepte ausgesprochen, mit denen die Vernetzung von Maßnahmen in der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention mit der darüber hinaus-gehenden Diagnostik und anschließenden Therapie verbessert wird. Zudem ist der Präventionsansatz der Betriebsärzte in der (Muster)Weiterbildungsordnung für Ärzte klar definiert.
2. Rechtlicher Kontext: Betriebsärzte als relevante Akteure im Präventionsgesetz
Mit dem „Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsförderung und der Prävention, kurz Präventionsgesetz [4], sind die Betriebsärzte auch im SGB V zu wichtigen Akteuren der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention geworden. Deshalb hat die DGAUM im März 2016 zur Umsetzung des im Juli 2015 in Kraft getretenen Präventionsgesetzes einen Kooperationsvertrag mit dem Krankenversicherungsunternehmen Barmer geschlossen. Schwerpunkt dieser Kooperation ist u.a. das Modellvorhaben nach § 20g SGB V „Gesund arbeiten in Thüringen“. Im Mittelpunkt dieses großen arbeitsmedizinischen Versorgungsforschungsprojekts stehen die Schnittstelle zwischen dem betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Maßnahmen der Verhaltens- und Verhältnisprävention inklusive der Verbesserung von BGF- bzw. BGM-Maßnahmen. Darüber hinaus geht es um die Etablierung von Strukturen der Qualitätssicherung betriebsärztlicher Leistungen und um die Verbesserung der Schnittstelle zwischen Prävention und Kuration, also zwischen Betriebsärzten einerseits sowie Haus- und anderen niedergelassenen Fachärzten andererseits. Erste Ergebnisse des Modellvorhabens „Gesund arbeiten in Thüringen“ weisen darauf hin, dass eine engere Kooperation zwischen betriebsärztlicher Prävention und medizinischer Kuration für alle Beteiligten mit relevanten Vorteilen verbunden ist. Nach Abschluss des Modellvorhabens sollen Vorschläge erarbeitet werden, wie die gewonnenen Erkenntnisse über Thüringen hinaus zur Verbesserung der Gesundheitsförderung und Prävention in Deutschland beitragen können [5].
Darüber hinaus ist nicht zu vergessen, dass die im Jahr 2013 novellierte Verordnung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge (ArbMedVV) neben anderen Gesetzten und Verordnungen eine wichtige Rechtsgrundlage für die dem Arbeitgeber aufgetragene Verpflichtung zur betrieblichen Prävention und Gesundheitsförderung darstellt [6]. Seitens
des Beschäftigten resultiert daraus ein Rechtsanspruch in einem durch die ärztliche Schweigepflicht geschützten Rahmen, um gesundheitlichen Risiken und Belastungen sowie den daraus resultierenden individuellen Beanspruchungen für den Beschäftigten einschätzen zu können. Deshalb ist nochmals darauf hinzuweisen, dass die in der ArbmedVV verpflichtend vorgeschriebene Anamnese, die die Grundlage für die arbeitsmedizinische Beratung darstellt, bereits einen wichtigen Bestandteil einer medizinischen Untersuchung darstellt [7].
Damit ist im Kontext des vom Arbeitgeber zu verantwortenden Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz unmittelbar eine Kontaktstelle zu den präventionsmedizinisch intendierten Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 SGB V gegeben, die es für die Beschäftigten unbedingt zu nutzen gilt, wenn bereits am Arbeitsplatz ärztliche Beratung im Wege der arbeitsmedizinischen Vorsorge in Anspruch genommen wird. Hierfür ist auch eine enge Kooperation zwischen Betriebsärzten sowie Haus- und anderen niedergelassenen Fachärzten notwendig. Allerdings bedarf es einer klaren Leistungsdefinition, um Doppelabrechnungen zu Lasten der jeweiligen Kostenträger (Arbeitgeber vs. GKV) zu vermeiden.
Bei der Formulierung des Präventionsgesetzes hatte der Gesetzgeber diese Kontaktstelle klar erkannt und mit
§ 132f SGB V „Versorgung durch Betriebsärzte“ festgeschrieben: „Die Krankenkassen oder ihre Verbände können in Ergänzung zur vertragsärztlichen Versorgung und unter Berücksichtigung der Richtlinien nach § 25 Absatz 4 Satz 2 mit geeigneten Fachärzten für Arbeitsmedizin oder den über die Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ verfügenden Ärzten oder deren Gemeinschaften Verträge über die Durchführung von Gesundheitsuntersuchungen nach § 25 Absatz 1, über Maßnahmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung, über Präventionsempfehlungen, Empfehlungen medizinischer Vorsorgeleistungen und über die Heilmittelversorgung schließen, soweit diese in Ergänzung zur arbeitsmedizinischen Vorsorge erbracht werden.“ Nach Ansicht der DGAUM bedarf es hinsichtlich der Aspekte Qualitätssicherung und Wirtschaftlichkeit an der Schnittstelle zwischen der gesetzlich verbürgten, arbeitsmedizinischen Vorsorge und den neuen Präventionsmaßnahmen nach dem Präventionsgesetz einer klaren Leistungsdefinition, um Doppeluntersuchungen und damit verbundene unsinnige Kosten zu Lasten der jeweiligen Kostenträger, das sind die Arbeitgeber im Bereich arbeitsmedizinischen Vorsorge einerseits sowie der Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im Bereich neuer Präventionsleistungen nach dem Präventionsgesetz andererseits, weitgehend zu vermeiden.
Weiterhin gilt es für die DGAUM zu bedenken: Wenn Präventionsangebote und -pfade sich an den Prinzipien einer wissenschaftlich fundierten Qualitätssicherung und der nachhaltigen Wirtschaftlichkeit zu orientieren haben, dann bedürfen präventionsmedizinische Maßnahmen im Allgemeinen ebenso wie die Leistungserbringung durch die Betriebsärzte im Besonderen einer kontinuierlichen Evaluierung. Im Falle der Leistungserbringer könnte die Qualitätssicherung durch die Einführung einer Pflicht zur fachlichen Fortbildung, vergleichbar im kurativen Bereich der Medizin, gesteuert werden. In der ärztlichen (Muster-)Berufsordnung ist diese Pflicht selbstverständlich auch für die Betriebsärzte festgeschrieben, allerdings erfolgt bisher noch keine flächendeckende Überprüfung, ob dieser Verpflichtung auch ausreichend Genüge getan wird.
3. Gesundheitsuntersuchungen durch Betriebsärzte nach dem Präventions- gesetz: Selektivvertragliche Lösungen mit den GKV erforderlich
Neben den Präventionsleistungen entsprechend § 132 f SGB V stellten Schutzimpfungen auch durch Betriebsärzte ebenfalls einen wichtiger Bestandteil des Präventionsgesetzes dar. Für
die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) regeln die §§ 20i SGB V und 132e SGB V die Rahmenbedingungen für die primäre Prävention der Versicherten durch Schutzimpfungen. Ziel ist es, den Impfschutz in der Bevölkerung nachhaltig zu verbessern und gerade das Setting Arbeitsplatz dafür zu nutzen. Mit den beiden zum Beginn des Jahres 2019 in Kraft getretenen Selektivverträgen konnte die DGAUM zusammen mit ihren Vertragspartnern Barmer bzw. Bahn-BKK innovative Wege aufzeigen, wie das als Aufgabe der Betriebsärzte in Unternehmen und Betrieben umgesetzt und den Zielen des Präventionsgesetzes entsprochen werden kann [8]. Diese selektivvertraglichen Lösungsansätze können Modellcharakter beanspruchen, um ebenfalls die „Versorgung durch Betriebsärzte“ nach
§ 132 f SGB V mit medizinischen Maßnahmen wie u.a. Gesundheitsuntersuchungen und daraus resultierenden Präventionsempfehlungen bzw. Empfehlungen von medizinischen Vorsorgeleistungen im Setting Arbeitsplatz in die Praxis umzusetzen.
Dabei sollte es Ziel sein, dass ein solches Vertragswerk sowohl von allen gesetzlichen Krankenkassen genutzt werden kann, als auch allen Ärzten offen stehen soll, die eine Befähigung zu Gesundheitsuntersuchungen entsprechend der einschlägigen Richtlinie des Gemeinsamen Bundesauschusses (G-BA) verfügen [9], also Fachärzten für Arbeitsmedizin sowie Fachärzten mit der Zusatzbezeichnung „Betriebsmedizin“ genauso wie jenen Fachärzten, die im Präventionssetting Arbeitsplatz Leistungen erbringen, aber über keine kassenärztliche Zulassung verfügen.
An dieser Stelle ist zu betonen, dass solche, die vertragsärztliche Versorgung ergänzenden Selektivverträge, besonders dazu geeignet sind, um jene Beschäftigten für Maßnahmen in der medizinischen Primär- und Sekundärprävention zu motivieren, die sonst eher weniger bis kaum einen Hausarzt aufsuchen. Gerade am Arbeitsplatz zeigt sich, wie wichtig peer-group orientierte Maßnahmen sind, um Männer in der Alterskohorte zwischen 18 und 60 Jahren u.a. für Impfungen oder Gesundheitsuntersuchungen zu motivieren. Einschlägige Erfahrungen u.a. sowohl aus der chemischen Industrie [10] als auch aus dem Umfeld der Automobilherstellung [11] belegen, dass betriebsärztliche Präventionsprogramme einen bedeutsamen Beitrag zur individuellen Gesundheitsvorsorge leisten können und dabei sowohl gesunde Mitarbeiter als auch die nicht präventionsmedizinisch aktiven Männer erreichen, um über Risikofaktoren zu informieren und für Präventionsmöglichkeiten und -maßnahmen zu gewinnen. Neben Beschäftigten und deren Betrieben bzw. Unternehmen profitiert hier ebenfalls unser Gesundheitssystem, wenn es gilt, die stetig wachsenden Kosten der medizinischen Kuration zugunsten der Prävention ernsthaft begrenzen zu wollen.
Autoren Kontakt DGAUM
Thomas Nesseler, Dirk-Matthias Rose, Andreas Tautz, Stephan Letzel, Thomas Kraus, Hans Drexler
Deutsche Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V.
Tel. 089/330 396-15, bkramer@ dgaum.de, www.dgaum.de
Literatur
[1] Tautz, Andreas (2016): Betriebliches Gesundheitsmanagement: Bedeutung von Primär-, Sekundär-und Tertiärprävention. In: Rieger A.; Hildenbrand, S.; Nesseler, T.; Letzel, S.; Nowak, D. (2016): Prävention und Gesundheitsförderung an der Schnittstelle zwischen kurativer Medizin und Arbeitsmedizin. Ein Kompendium für das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Landsberg am Lech 2016: ecomed Medizin.
[2] Beschlüsse des 115. Deutschen Ärztetages in Nürnberg, siehe: www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/115DAETBeschlussprotokollfinal 20120702LZ.pdf (zuletzt abgerufen 05.05.2019)
[3] Beschlüsse des 121. Deutschen Ärztetages in Erfurt, siehe: www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/ user_upload/downloads/pdf-Ordner/ (zuletzt abgerufen 05.05.2019)
[4] Bundesgesetzblatt, Jahrgang 2015 Teil I Nr. 31, ausgegeben zu Bonn am 24. Juli 2015, S. 1368 ff.: www.dguv.de/medien/inhalt/
praevention/themen_a_z/praevg/ aenderung/praevgesetz.pdf (zuletzt abgerufen 05.05.2019)
[5] Amler, Nadja; Voss, Amanda;
Wischlitzki, Eva; Quittkat, Christine; Sedlaczek, Sabine; Nesseler, Thomas; Letzel, Stephan; Drexler, Hans (2019): Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben im betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz – Status quo, Kenntnisstand und Unterstützungsbedarf in KMU. In: ASU, Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 54 (2019), S. 52 ff.
[6] Einen Überblick zu den Gesetzlichen Grundlagen des betrieblichen Gesundheitsschutzes gibt Meinl, Hubert (2018): Betrieblicher Gesundheitsschutz. Vorschriften, Aufgaben und Pflichten für den Arbeitgeber. Landsberg am Lech 7. Aufl. 2018: ecomed Medizin.
[7] Letzel, Stephan (2019): Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung. Stellenwert der medizinischen Untersuchung im Rahmen der arbeitsmedizinischen Vorsorge.
In: ASU, Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 54 (2019), S. 157 ff.
[8] Nesseler, Thomas (2019):
Die ersten bundesweiten Verträge zur Regelung von Schutzimpfungen durch Betriebsärzte sind in Kraft.
In: ASU, Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 54 (2019), S. 56 ff.
[9] Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung von Krankheiten (Gesundheitsuntersuchungs-Richtlinie) Stand:
19. Juli 2018: www.g-ba.de/down loads/62–492–1679/GU-RL_ 2018–07–19_iK-2018–10–25.pdf (zuletzt abgerufen 05.05.2019)
[10] Webendörfer, Stefan; Oberlinner, Christoph (2016): Sekundärprävention als Baustein im Betrieblichen Gesundheitsmanagement (BGM). In Rieger A.; Hildenbrand, S.; Nesseler, T.; Letzel, S.; Nowak, D. (2016): Prävention und Gesundheitsförderung an der Schnittstelle zwischen kurativer Medizin und Arbeitsmedizin. Ein Kompendium für das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Landsberg am Lech 2016: ecomed Medizin.
[11] Finell, Matthias, Weiler, Stephan, Keskin, Mekail-Cem, Stork, Joachim (2016): Allgemeine Sekundärprävention im Setting Betrieb: Beispiel Checkup bei AUDI. In Rieger A.; Hildenbrand, S.; Nesseler, T.; Letzel, S.; Nowak, D. (2016): Prävention und Gesundheitsförderung an der Schnittstelle zwischen kurativer Medizin und Arbeitsmedizin. Ein Kompendium für das Betriebliche Gesundheitsmanagement. Landsberg am Lech 2016: ecomed Medizin.