Eine Branche, die dabei zunehmend in den Fokus der Öffentlichkeit getreten ist, ist die Fleischindustrie. Unwürdige Arbeits- und Wohnbedingungen, denkbar schlechte Hygienezustände und unverhältnismäßige Ausweitung von Werkverträgen sowie ein hoher Anteil an Beschäftigten mit Migrationshintergrund, insbesondere aus Südosteuropa, sind nur einige Punkte der Debatte.
Doch wie ist die Qualität der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten mit Migrationshintergrund in Nordrhein-Westfalen insgesamt zu bewerten? Handelt es sich in bestimmten Branchen um Extremfälle oder sind Menschen mit Migrationshintergrund insgesamt häufiger von schlechten Arbeitsbedingungen betroffen? Wie schätzen sie ihre Belastung und Beanspruchung durch die Arbeit ein?
Anhand der repräsentativen Beschäftigtenbefragung des Landesinstituts für Arbeitsgestaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (LIA.nrw) 2018/2019 kann dies erstmals ausgewertet werden. Die Studie zeigt, dass Beschäftigte mit Migrationshintergrund tatsächlich tendenziell häufiger unter schwierigeren Bedingungen arbeiten als Beschäftigte ohne Migrationshintergrund.
In Nordrhein-Westfalen haben fast ein Viertel aller Beschäftigten einen Migrationshintergrund, Tendenz steigend. Dies und ein steigender Anteil von Beschäftigten mit Migrationshintergrund insgesamt machen es umso wichtiger, Arbeit vielfaltsgerecht zu gestalten, um die Erwerbsfähigkeit und Gesundheit aller Beschäftigten gleichermaßen zu schützen und zu fördern. Doch wie kann Arbeit vielfaltsgerecht gestaltet werden?
Ins Deutsche übersetzt bedeutet der Begriff „Diversity“ Vielfalt. [2]Hinter diesem Begriff wird der bewusste Umgang mit Vielfalt in der Gesellschaft verstanden. [2] In den letzten Jahren ist der Altersdurchschnitt der Beschäftigten gestiegen, immer mehr Frauen sind erwerbstätig und die Anzahl der Beschäftigten mit Migrationshintergrund sowie der Beschäftigten mit einer amtlich bescheinigten Behinderung hat sich erhöht. Im Berufsalltag arbeiten verschiedene Menschen mit unterschiedlicher Leistungsfähigkeit, verschiedenen Erstsprachen und unterschiedlichen Arbeitsmethoden zusammen. Um Diskriminierungen zu reduzieren, Chancengleichheit zu fördern und die Motivation, Gesundheit und Zufriedenheit der Beschäftigten zu stärken, ist es essenziell, die vielfältigen Bedürfnisse, Erfahrungen und Fähigkeiten der Beschäftigten zu berücksichtigen und in den Arbeitsschutz einzubeziehen.
1. Wie bewerten Beschäftigte
mit Migrationshintergrund die
Belastungen und Beanspruchungen bei der Arbeit?
Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind durch die Arbeit anders belastet als Beschäftigte ohne Migrationshintergrund: Sie geben beispielsweise häufiger an, dass sie (immer, häufig, manchmal oder selten) bei Rauch, Staub oder unter Gasen und Dämpfen arbeiten müssen (37 % geg. 25 %). Sie berichten auch häufiger über eine Unterbrechung der täglichen Arbeitszeit durch eine sehr lange Pause (16 % geg. 13 %). Beschäftigte ohne Migrationshintergrund berichten dagegen deutlich häufiger von Konflikten mit Kolleginnen und Kollegen (64 % geg. 54 %) oder
Konflikten mit Kundinnen und Kunden oder Patientinnen und Patienten (61 % geg. 46 %).
Abbildung 1 zeigt ein Ranking der wahrgenommenen Belastungen. Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind eher körperlichen Belastungen und Beschäftigte ohne Migrationshintergrund eher psychischen, durch Führung und Organisation bedingten Belastungen ausgesetzt.
Beschäftigte mit Migrationshintergrund fühlen sich tendenziell stärker beansprucht durch die Belastungen (siehe Abb. 2). Ein Beispiel: 54 % der Befragten mit Migrationshintergrund, die durch einseitige Bewegungsabläufe oder körperliche Zwangshaltungen belastet sind, fühlen sich dadurch beansprucht. In der Vergleichsgruppe sind dies nur 47 %.
Die Beschäftigtenbefragung zeigt auch, dass die Befragten mit Migrationshintergrund häufiger von sogenannten atypischen Arbeitszeitmodellen betroffen sind. Dazu gehört: Schichtarbeit, lange Arbeitszeiten, Arbeiten auf Abruf und Erreichbarkeit für dienstliche Angelegenheiten im Privatleben. Diese Punkte können als weitere Belastungen und Beanspruchung eingeordnet werden.
Telearbeit bzw. Homeoffice kann, gerade in Zeiten einer Pandemie, eine Möglichkeit sein, Belastungen und Beanspruchungen zu reduzieren. Dies in Anspruch zu nehmen ist für die Beschäftigten mit Migrationshintergrund seltener möglich als für die Beschäftigten ohne Migrationshintergrund.
2. Wie schätzen Beschäftigte mit Migrationshintergrund ihren Gesundheitszustand und ihre Arbeitsfähigkeit ein?
Beschäftigte mit Migrationshintergrund schätzen ihren aktuellen Gesundheitszustand deutlich besser ein als Beschäftigte ohne Migrationshintergrund (siehe Abb. 3). 24 % gaben an, aktuell den besten je erreichten Gesundheitszustand inne zu haben. Dies gaben in der Gruppe der Befragten ohne Migrationshintergrund nur 14 % an.
Wenn es um die zukünftige Arbeitsfähigkeit geht, sind Personen mit Migrationshintergrund pessimistischer als die Vergleichsgruppe (siehe Abb. 4). In der Tendenz beurteilen sie die Wahrscheinlichkeit, ihre aktuelle Arbeit bis zur Rente ausüben zu können, schlechter. Jede/
Jeder Vierte der Beschäftigten mit Migrationshintergrund gab an, dass es (sehr) unwahrscheinlich ist, dass sie/er ihre/seine Tätigkeit auch in den verbleibenden Jahren bis zum Renteneintritt ausüben kann. In der Vergleichsgruppe der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund sagte dies nur jede/jeder Fünfte.
3. Welche Arbeitsressourcen haben die Beschäftigten mit Migrationshintergrund?
Wie vorab anhand der Befragungsergebnisse dargelegt, sind die Arbeitsanforderungen, von denen die hier befragten Beschäftigten mit Migrationshintergrund berichten, relativ hoch. Dies kann nach dem „job demands – job resources model“ von Demerouti entweder zu einer Beeinträchtigung der Gesundheit oder zu einer Abpufferung beeinträchtigender Arbeitsanforderungen führen, [3] je nach dem, über welche Ressourcen die Beschäftigten verfügen.
Denn Arbeitsressourcen wie beispielsweise Belohnung, positives Feedback, Autonomie und Unterstützung bei der Arbeit sind ein zusätzlicher Einflussfaktor auf die Gesundheit. [3] Hohe Ressourcen haben einen positiven Effekt auf die Motivation und psychische Gesundheit; geringe Ressourcen wirken demotivierend.
Hinsichtlich der Autonomie gibt in beiden Gruppen rund die Hälfte an, dass sie keinen Einfluss auf die Arbeitsmenge haben. Einen Unterschied gibt es aber zwischen den Gruppen hinsichtlich ihres Einflusses auf die Erledigung der Aufgaben und die Lösung von Problemen. Beschäftigte mit Migrationshintergrund beurteilen ihre Einflussmöglichkeiten schlechter. 12 % der Beschäftigten mit Migrationshintergrund geben an, dass sie über keinen Einfluss verfügen. Bei der Vergleichsgruppe der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund geben dies nur 5 % der Befragten an.
Ihren Einfluss auf die Pausengestaltung (Dauer, Häufigkeit, Zeitpunkt) beurteilen die Beschäftigten mit Migrationshintergrund ebenfalls schlechter. 35 % (im Vergleich zu 27 %) sagen, sie haben keinen Einfluss auf die Gestaltung der Pausen.
Auch die Unterstützung durch die Vorgesetzten oder Kolleginnen und Kollegen bewerten die Befragten mit Migrationshintergrund schlechter (siehe Abb. 5).
Angebote der betrieblichen Prävention (Ergonomische Arbeitsplatzgestaltung, Möglichkeiten zu Stressbewältigung, Sport etc.) können ebenfalls Beanspruchungen reduzieren und gesundheitlichen Beeinträchtigungen vorbeugen. Aber diese, auch das zeigt die Beschäftigtenbefragung, stehen den Befragten mit Migrationshintergrund seltener zur Verfügung als denen ohne Migrationshintergrund.
4. Was bedeuten die Befragungsergebnisse für den Arbeits- und
Gesundheitsschutz?
Die Beschäftigtenbefragung 2018/2019 zeigt, dass sich die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten mit Migrationshintergrund zum Teil deutlich von denen der Beschäftigten ohne Migrationshintergrund unterscheiden.
Ein zentrales Ergebnis ist, dass sich die Beschäftigten mit Migrationshintergrund häufiger durch ihre Tätigkeit gesundheitlich beansprucht fühlen. Hinzu kommt, dass sie über geringere Arbeitsressourcen (z. B. Unterstützung oder Gestaltungsspielraum) verfügen.
Schlechtere Arbeitsbedingungen und weniger Prävention: Mit Blick auf die Erhaltung der Arbeitsfähigkeit und der Gesundheit sowie dem Ziel menschengerechter Arbeitsgestaltung ist dies eine ungünstige Kombination – nicht nur in Zeiten einer Pandemie.
Und tatsächlich beurteilen die Befragten ihre zukünftige Arbeitsfähigkeit bereits heute schlechter als die Befragten ohne Migrationshintergrund.
Eine Ursache für das Ergebnis ist möglicherweise, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufig in Branchen arbeiten, in denen die Beanspruchungen durch die Arbeit insgesamt hoch und der Arbeitsschutz gegebenenfalls tendenziell für alle Beschäftigten schlechter ist – unabhängig von der Herkunft. Dies lässt sich aufgrund der Beschaffenheit der Stichprobe aber nicht analysieren. Und es ändert auch nichts am Handlungsbedarf.
Die Ergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass die Zielgruppe der Beschäftigten mit Migrationshintergrund stärker in den Fokus genommen werden sollte.
Der Blick darf dabei nicht nur auf die Extremfälle, beispielsweise in der Fleischindustrie, gerichtet sein, sondern sollte darüber hinausgehen. Denn Beschäftigte mit Migrationshintergrund sind über alle Branchen hinweg, aus den unterschiedlichsten Gründen, tendenziell häufiger von schlechten Arbeitsbedingungen betroffen. Vielfaltsgerechter Arbeitsschutz ist daher notwendig.
Beispiele guter Praxis und konkrete Ansatzpunkte, wie dies im Betrieb umgesetzt werden kann, gibt es viele. Einige dieser Tipps finden Sie im Kasten auf der vorherigen Seite. Für weitere Informationen und Handlungshilfen besuchen Sie das Landesinstitut für Arbeitsgestaltung des Landes Nordrhein-Westfalen online unter
Literaturverzeichnis
Bundesagentur für Arbeit. (2020). Bundesagentur für Arbeit. Abgerufen am 27.07.2020 von https://statistik.arbeitsagentur.de/Statistikdaten/Detail/202006/arbeitsmarktberichte/am-kompakt-corona/am-kompakt-corona-d-0–202006-pdf.pdf
Borberg, K. (2020). Hochschule für angewandte Wissenschaften München. Abgerufen am 29.06.2020 von https://www.hm.edu/allgemein/hochschule_muenchen/familie_gender/diversity/definition.de.html
Demerouti, E., & Nachreiner, F. (2019). Zum Arbeitsanforderungen – Arbeitsressourcen – Modell von Burnout und Arbeitsengagement – Stand der Forschung. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (73), S. 119 – 130. Abgerufen am 27.08.2020 von https://link.springer.com/article/10.1007/s41449–018–0100–4
Landesinstitut für Arbeitsgestaltung des Landes Nordrhein-Westfalen (LIA.nrw). (12.2019). www.lia.nrw.de. Abgerufen am 14.07.2020 von www.lia.nrw/lia-tipp-bgf-vielfalt