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Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis

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Hintergrund und Ziele

Ebenso wie bestimmte Arten und Ausprägungen körperlicher Belastung gesundheitsgefährdend sein können, kann auch die psychische Belastung der Arbeit gesundheitsbeeinträchtigende Wirkungen haben, zum Beispiel bei Missverhältnissen von Arbeitsmenge und -zeit, überlangen Arbeitszeiten, unzureichenden Handlungsspielräumen bei der Arbeit oder auch im Falle mangelnder sozialer Unterstützung und/oder Wertschätzung durch Vorgesetzte. Vom Arbeitgeber wird daher erwartet, auch solche psychosozialen Risiken systematisch zu ermitteln und soweit als möglich zu reduzieren.

Wie in den Betrieben dazu konkret vorgegangen wird, ist allerdings wenig empirisch untersucht. Das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) im Dezember 2019 abgeschlossene Feldforschungsprojekt „Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis„ (F2358) verfolgte daher das Ziel, Vorgehensweisen in den Betrieben, aber auch Schwierigkeiten im Umgang mit psychosozialen Risiken zu explorieren. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auch auf die Untersuchung kleinbetrieblicher Praxis gelegt, weil hierüber besonders große Wissenslücken bestehen.

Datengrundlage und Methoden

Primäre empirische Grundlage des Projektes sind leitfadenstrukturierte Interviews mit Akteuren aus insgesamt 41 Betrieben (darunter 15 kleine und mittlere Unternehmen), die Aktivitäten zur Beurteilung und Vermeidung psychosozialer Risiken in ihrem Betrieb organisiert haben. In den kleinen Betrieben waren dies zumeist die Betriebsinhaber/-innen, in größeren Betrieben Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebsärzte/-innen, Fachleute aus dem betrieblichen Personal- und/oder Gesundheitsmanagement sowie Betriebsräte.

Ergänzt wurde diese Datenbasis durch Interviews mit insgesamt 17 Aufsichtspersonen und Fachberater/-innen der Unfallversicherungsträger und staatlichen Arbeitsschutzbehörden, die die betriebliche Praxis aus eigener Beratungs- und Überwachungsarbeit (gut) kennen.

Weiterhin wurden Daten aus der GDA-Betriebsbefragung 2015 (n=6.500) unter den Fragestellungen analysiert, (1) in welchem Maße Gefährdungsbeurteilungen unter Berücksichtigung psychischer Belastung in den Betrieben in Deutschland umgesetzt werden und (2) unter welchen betrieblichen Rahmenbedingungen die Umsetzung wahrscheinlicher ist.

Zentrale Ergebnisse

Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastung liegen bislang nur in einer Minderheit der Betriebe vor. In kleinen Betrieben wird mehrheitlich gar keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt, aber auch in vielen großen Betrieben bleiben psychosoziale Risiken in der Gefährdungsbeurteilung häufig außen vor. Die Wahrscheinlichkeit für die Umsetzung einer Gefährdungsbeurteilung (psychischer Belastung) steigt mit zunehmender Betriebsgröße, wenn eine Fachkraft für Arbeitssicherheit vorhanden ist, wenn ein Betriebsarzt/ eine Betriebsärztin bestellt ist und wenn ein Aufsichtsdienst den Betrieb innerhalb der letzten zwei Jahre besucht und die Berücksichtigung psychischer Belastung in der Gefährdungsbeurteilung angesprochen hat (Beck & Lenhardt 2019).

Zielgerichtete Anstrengungen zur Vermeidung von psychosozialen Risiken werden im Betrieb allerdings nicht nur und ausschließlich im Rahmen der arbeitsschutzgesetzlich geforderten „Gefährdungsbeurteilungen“ unternommen. So wurde in Interviews in einer sozialtherapeutischen Einrichtung deutlich, dass es für die dort beschäftigten Therapeuten/-innen und Sozialarbeiter/-innen zum professionellen Selbstverständnis dazugehört, Risiken, die aus der Zusammenarbeit mit Patienten/-innen resultieren (bspw. Konfrontation mit Leid, Möglichkeit gewalttätiger Übergriffe), aktiv vorzubeugen. Der Umgang mit solchen Risiken ist hier daher auch regelmäßig Gegenstand von Teambesprechungen, Supervisionen sowie der beruflichen Aus- und Weiterbildung der Beschäftigten. Anstrengungen zur Gefährdungsvermeidung finden im Betrieb demnach nicht ausschließlich im Kontext von „Arbeitsschutz“ statt, sondern in verschiedenen Kontexten, in denen Arbeit tagtäglich bewertet und gestaltet wird – im betrieblichen Personal- und Gesundheitsmanagement ebenso wie als Aufgabe fürsorglicher Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte und/oder als Bestandteil professioneller Berufsausübung der Beschäftigten (Beck et al. 2017).

Psychosoziale Risiken durch eine zu hohe Arbeitsintensität, überlange Arbeitszeiten oder inadäquates Führungsverhalten werden in der Praxis als komplexe Beurteilungs- und Gestaltungsprobleme erlebt. So sind bspw. Gefährdungen im Zusammenwirken von Arbeitsmenge, Aufgabenkomplexität, Arbeitszeit, Qualifikation und Entscheidungsspielräumen der Arbeitenden in der Praxis nur schwer zu spezifizieren. Nicht selten sind auch Konflikte mit anderen personal- oder leistungspolitischen Zielen der Arbeitsgestaltung zu lösen, etwa im Falle der Beurteilung und Gestaltung eines „angemessenen“ Verhältnisses von Arbeitsmenge und -zeit. Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung wurde daher vielfach als ein vielschichtiger Kompromissbildungsprozess beschrieben, in dem verschiedene und zum Teil konfligierende Problemsichten und Interessen eingebracht und verhandelt werden. Die Problemsicht und das Interesse des „betrieblichen Arbeitsschutzes“ in diesen Prozess wirksam einzubringen, wird seitens der Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte/-innen als eine oftmals schwierige Herausforderung erlebt (Beck 2019).

Die Herangehensweisen an die Beurteilung psychischer Belastung waren in den untersuchten Betrieben sehr unterschiedlich. In einem Teil der Fälle wurden Konstrukte (bspw. Aufgabenvariabilität, Arbeitsintensität) zum Bezugspunkt der Beurteilung gemacht, die in der Regel mit standardisierten Befragungs- und/oder Beobachtungsinstrumenten vorgenommen wurde und einer technisch-rationalen Logik von „Messen und Bewerten„ folgte. Die Analyse konkreter kritischer Belastungssituationen (z.B. Überstunden als Folge hohen Einarbeitungsaufwandes in einer Abteilung mit hoher Fluktuation) erfolgte dagegen i.d.R. weniger formal und standardisiert, sondern vielmehr diskursiv und reflexiv, zum Beispiel in
Workshops, Mitarbeitergesprächen oder Teammeetings. Sie folgte weniger dem Anspruch technisch-rationalen „Messens“ als vielmehr dem Bemühen um „Verstehen und Erklären“ von kritischen Belastungssituationen mit ihren jeweiligen Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen im spezifischen Kontext. Während standardisierte Mess- und Beurteilungsinstrumente einen systematischen Überblick über Belastungsausprägungen lieferten, ermöglichten diskursive und reflexive Vorgehensweisen die Entwicklung eines gestaltungsrelevanten Verständnisses konkreter Belastungssituationen (Schuller et al. 2018).

In kleinen und mittleren Unternehmen (bis 249 Mitarbeitern) war die Bandbreite methodischer Herangehensweisen ähnlich breit wie in den größeren Unternehmen. Es dominierten jedoch weniger systematische Vorgehensweisen, mit denen die Akteure vor Ort versuchten, (alltägliche) Problemsituationen, die mit psychischer Belastung im Zusammenhang standen, zu verstehen und (pragmatisch) zu lösen. Hierfür nutzten sie gezielte Einzel- und Gruppengespräche, wie zum Beispiel Teammeetings oder Jahresmitarbeitergespräche, aber auch spontane, informelle Gespräche auf dem Flur oder beim „täglichen Frühstück„, in denen auf eigene Beobachtungen und konkrete Belastungserfahrungen Bezug genommen wurde (Schuller 2018).

Prozesse der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Gefährdungsvermeidung waren in den untersuchten Fällen insgesamt weniger reflektiert, organisiert und gesteuert als die Erfassung und Beurteilung psychischer Belastung. Angesichts der Komplexität und vielfältigen Interdependenzen der mit psychischer Belastung assoziierten Gestaltungsprobleme fiel es den Akteuren oftmals schwer, Angriffspunkte und Ziele der Gestaltung zu definieren und Gestaltungsoptionen zu erkennen. Maßnahmen zur Gefährdungsvermeidung scheiterten, wenn es auf Seiten des Managements an Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme mangelte. Mitunter war aber auch unzureichendes Commitment der Beschäftigten ein Problem. Darüber hinaus wurde die Entwicklung und Umsetzung von Gestaltungsmaßnahmen stark erschwert, wenn Akteure zwar formal die Verantwortung für Gestaltungsprozesse trugen, jedoch kaum Spielräume für Entscheidungen über Maßnahmen und deren Umsetzung hatten (Schuller 2019).

Schlussfolgerungen für die Praxis

Zielgerichtete Maßnahmen zur Reduzierung psychosozialer Risiken sind im Betrieb in ganz unterschiedlichen Kontexten nötig und möglich, in der Arbeitszeit- und Leistungspolitik ebenso wie in der Personalplanung oder der Qualifizierung, als Aufgabe fürsorglicher Mitarbeiterführung ebenso wie als Bestandteil professioneller Berufsausübung. Im Interesse des Gesundheitsschutzes gilt es, Anstrengungen zur Gefährdungsvermeidung in allen diesen Kontexten systematisch und zielgerichtet zu befördern.

Für viele relevante psychosoziale Risiken ist ein SOLL-IST-Abgleich auf Grundlage allgemeinverbindlicher Messstandards und Schutzvorgaben nicht möglich. Vielmehr gilt es, im Betrieb eine systematische Reflexion und Verständigung über Gefährdungen durch psychische Belastung und Möglichkeiten ihrer Vermeidung zu befördern, an der Beschäftigte, Führungskräfte und Experten/-innen gleichermaßen beteiligt werden. Im Mittelpunkt sollte dabei stehen, was im Betrieb bereits getan wird und weitergehend unternommen werden muss, um das Auftreten kritischer Belastungsausprägungen (bspw. überlange Arbeitszeiten, destruktives Führungsverhalten, Arbeiten unter Zeit- und Leistungsdruck, emotionale Dissonanz) soweit als möglich zu vermeiden. Für die Wahl von Instrumenten und Verfahren der Gefährdungsbeurteilung ausschlaggebend sollte sein, ob und inwiefern sie einen solchen Verständigungs- und Gestaltungsprozess ermöglichen und unterstützen.

Führungskräfte und Beschäftigte müssen als primäre Akteure der Beurteilung und Gestaltung der Arbeit adressiert und in die Gefährdungsbeurteilung eingebunden werden. Dafür gilt es, Spielräume und Anreize zu schaffen sowie Kompetenzen von Führungskräften und Beschäftigten zu stärken, Entscheidungen über die Organisation und Gestaltung der Arbeit im Interesse des Gesundheitsschutzes zu fällen. Dazu gehören entsprechende Qualifizierungsmaßnahmen, aber auch ausreichende Entscheidungsspielräume, zeitliche Ressourcen sowie geeignete Tools und fachlich fundierte Unterstützung durch Experten/-innen.

Arbeitsschutzexperten/-innen sind bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nicht nur als Organisatoren und Moderatoren betrieblicher Kompromissbildung gefragt, sondern vor allem auch als fachlich versierte Interessenvertreter/-innen des Gesundheitsschutzes, die die spezifischen Problemsichten und Erwartungen des Arbeitsschutzes einbringen. Um die Handlungssicherheit von Arbeitsschutzexperten/-innen und Aufsichtspersonal zu stärken, gilt es einerseits, das Fachwissen über psychosoziale Risiken und Möglichkeiten ihrer Vermeidung (weiter) zu verbessern. Notwendig erscheint es aber auch, fachlich begründete Anforderungen des Arbeitsschutzes an eine gefährdungsvermeidende Gestaltung von Arbeit deutlich stärker zu konkretisieren, als dies gegenwärtig der Fall ist.

Für die Reflexion der Angemessenheit methodischer Zugänge zur Ermittlung psychosozialer Risiken im Kontext der Gefährdungsbeurteilung ist es unerlässlich, deren Funktion für den gesamten Gefährdungsbeurteilungsprozess jeweils kritisch zu hinterfragen. Um die gefährdungsvermeidende Arbeitsgestaltung stärker ins Zentrum des Gefährdungsbeurteilungsprozesses zu rücken, braucht es vor allem eine Verschiebung des Fokus von „psychischer Belastung als Mess- und Beurteilungsproblem“ hin zur „Gestaltung psychischer Belastung“. Es besteht ein erheblicher Entwicklungsbedarf für Verfahren, Instrumente und Handlungshilfen, die betriebliche Akteure dabei unterstützen, komplexe Zusammenhänge betrieblicher Gestaltungsprobleme besser zu verstehen und auf organisationaler Ebene kontextspezifische Gestaltungslösungen zu entwickeln und umzusetzen.


Publikationen von Projektergebnissen

  • Beck, David (2019): Psychische Belastung als Gegenstand des Arbeitsschutzes: Typische Herausforderungen in der betrieblichen Praxis. ARBEIT – Zeitschrift für Arbeitsforschung, Arbeitsgestaltung und Arbeitspolitik 28 (2): 125–147
  • Beck, David & Lenhardt, Uwe (2019): Consideration of psychosocial factors in workplace risk assessments: findings from a company survey in Germany. International Archives of Occupational and Environmental Health 92 (3): 435–451
  • Beck, David; Schuller, Katja; Lohmann-Haislah, Andrea & Stehr, Christoph (2019): Psychosozialen Risiken wirksam begegnen. Gefährdungsbeurteilung als Steuerungsinstrument. Personalführung 2019 (7–8): 32–39
  • Beck, David; Schuller, Katja & Schulz-Dadaczynski, Anika (2017): Aktive Gefährdungsvermeidung bei psychischer Belastung. Möglichkeiten und Grenzen betrieblichen Handelns. Prävention und Gesundheitsförderung 12 (4): 302–310
  • Eichhorn, Diana; Schuller, Katja (2017): Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung – Reine Pflichterfüllung oder Nutzen für die Betriebe? sicher ist sicher 2017 (10): 428–433
  • Schuller Katja (2020): Interventions as the centrepiece of Psychosocial Risk Assessment – Why so difficult? International Journal of Workplace Health Management, 13 (1): 61–80
  • Schuller, Katja, Schulz-Dadaczynski, Anika & Beck, David (2018): Methodische Vorgehensweisen bei der Ermittlung und Beurteilung psychischer Belastung in der betrieblichen Praxis. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie 62 (3): 126–141
  • Schuller, Katja (2018): „Gut, dass wir mal darüber geredet haben …?!„ – Methodische Herausforderungen für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in KMU. ASU Arbeitsmed Sozialmed Umweltmed 53: 790–797

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