In der Vergangenheit wurden bereits etliche Untersuchungen durchgeführt, um das Arbeitsunfallrisiko bei illegalem Drogenkonsum (einschließlich Cannabis) von Arbeitnehmern zu bewerten. Sie haben ein sehr variables Risiko aufgezeigt. Diese Inkonsistenz hängt mit dem Studiendesign, der Demografie, der Art der Beschäftigung und potenziellen Störfaktoren zusammen (z. B. generelles Risikoverhalten unter illegalen Drogenkonsumenten). Im Zusammenhang mit dem illegalen Drogenkonsum ist die Wirkung des Cannabiskonsums auf den Arbeitnehmer ein Thema, das in der Arbeitsmedizin bisher nur wenig Beachtung gefunden hat. Mit der politisch gewollten Legalisierung des Freizeitkonsums von Cannabis ist eine Auseinandersetzung der Problematik jedoch erforderlich, da eine höhere Prävalenz des Cannabiskonsums zu erwarten ist.
Gegenwärtig gibt es keine ausreichende Datenlage, um klare Schlussfolgerungen über die Beziehung zwischen dem „medizinischen“ Gebrauch von Cannabis oder dem „Freizeit“-Konsum und der Sicherheit (sowie Produktivität) am Arbeitsplatz zu ziehen. Es kann begrenzte Situationen geben, in denen eine niedrige Konzentration von Tetrahydrocannabinol (THC) oder eine minimale restliche THC-Bioverfügbarkeit im Rahmen einer Aktivität mit geringem Risiko keine messbare Gefahr darstellen. Gleichzeitig müssen Arbeitsmediziner auf das mögliche Potenzial für katastrophale Folgen von Cannabis-bedingten Beeinträchtigungen achten. Dieses Risiko wurde 2013 offenbar, als gezeigt werden konnte, dass illegaler Cannabisgebrauch der auslösende Faktor bei einem schweren Arbeitsunfall war, der sechs Menschleben forderte (Abbildung 1). In den USA ist es den Arbeitnehmern, die in einem staatlichen Drogentestprogramm regelmäßig gescreent werden, verboten, Cannabis zu verwenden. Darüber hinaus können Arbeitgeber in jedem Bundesstaat Arbeitnehmern unter dem Einfluss von Marihuana die Arbeit verbieten und Mitarbeiter disziplinieren, die gegen das Verbot verstoßen.
Die anstehende Legalisierung des Freizeitkonsums von Cannabis führt naturgemäß zu der Frage, welche Risiken dies für die Arbeitswelt nach sich ziehen könnte. Ergebnisse des aktuellen „National Survey on Drug Use and Health USA“ zeigten, dass mehr als 13 Prozent der Erwachsenen im Untersuchungszeitraum (ein Jahr) Cannabis konsumiert hatten und über acht Prozent innerhalb des letzten Monats. Die Zahlen in Deutschland dürften sich in ähnlicher Größenordnung bewegen.
Die Bedenken bezüglich des Cannabiskonsums von Arbeitnehmern betreffen sowohl akute körperliche Störungen und Beeinträchtigungen bei der Entscheidungsfindung als auch langfristige kognitive Defizite. Somit wurden in den Vereinigten Staaten arbeitsmedizinische Empfehlungen erarbeitet, um mit der zunehmenden Legalisierung von Cannabis in weiteren Bundesstaaten Schritt zu halten. Da es nur wenige Studien gibt, die das Risiko von Unfällen am Arbeitsplatz nach Cannabisexposition untersuchten, kann das Führen von Kraftfahrzeugen praktisch als ein Modell für die Prüfung sicherheitsrelevanter Fragen dienen (M. Reining, in diesem Heft). Eine Fall-Kontroll-Studie über Arbeitsunfälle aus dem Jahr 2014 fand keinen signifikanten Unterschied im Risiko zwischen Arbeitnehmern, die positiv auf Cannabis getestet wurden, und einer Stichprobe von Arbeitnehmern ohne nachweisbaren Konsum. Allerdings wurde in dieser Untersuchung nicht berücksichtigt, dass THC eine lipophile Verbindung ist, die im Fettgewebe abgelagert wird und im Urin für viele Tage nach dem Abklingen der anderen Effekte nachweisbar ist.
Zahlreiche Studien zu kognitiven und psychomotorischen Effekten von Cannabis wurden in den letzten Jahrzehnten durchgeführt, die einhellig die negativen Auswirkungen von Cannabis auf Lernen und Gedächtnis zeigen konnten, zusätzlich zu Defiziten bei Aufmerksamkeit, Konzentration und abstraktem Denken. Einige Studien konnten zeigen, dass der akute Cannabisgebrauch die kognitive Leistungsfähigkeit bei erfahrenen Konsumenten nicht signifikant mindert (Toleranzentwicklung!), obwohl bei einer größeren Anzahl der Probanden eine Verminderung oder Verzögerung der kortikalen Verarbeitung nachgewiesen werden konnte. Nach wie vor sind definitive Schlussfolgerungen über die akuten und anhaltenden Wirkungen von THC immer noch problematisch. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Belegen, die die Persistenz neurokognitiver Beeinträchtigungen von Stunden bis Wochen belegen. Mehrere Studien zum „Marihuana-High“ belegen einen Zusammenhang zwischen THC-Konzentration und neurokognitiver Dysfunktion. Die Restwirkungen setzten sich jedoch auch bei Probanden fort, die sich subjektiv nicht mehr beeinträchtigt fühlten. So bedeutet die subjektive Rückkehr zum mentalen Ausgangszustand möglicherweise nicht die vollständige Rückkehr der neurokognitiven Funktion.
Weitere Untersuchungen zeigten, dass THC dosisabhängig anhaltende negative Auswirkungen auf das verbale und visuelle Gedächtnis, die Funktionsfähigkeit als Führungskraft, die visuelle Perzeption, die psychomotorische Geschwindigkeit und die manuelle Geschicklichkeit verursacht. Die exekutiven Funktionen und die motorische Kontrolle über einen Zeitraum von mehr als sechs Stunden nach Beendigung des Rauchens wurden nachhaltig beeinträchtigt. Diese Effekte können auch noch nach 28 Tagen Abstinenz persistieren. Leistung und Sicherheit könnten möglicherweise auch nach einer mehrwöchigen Abstinenzzeit gefährdet sein. Es ist zu beachten, dass ein überwiegender Teil der Studien über den funktionellen Effekt von Marihuana mit Präparationen durchgeführt wurde, die eher wenig THC enthielten (ca. 4 % THC). Die heute auf dem Markt erhältlichen Präparate enthalten häufig deutlich mehr THC. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die jetzt erhältlichen Cannabiszüchtungen mit hohem THC-Gehalt proportional intensivere und länger anhaltende psychomotorische Effekte haben dürften.
Ein Missbrauch von illegalen Drogen bei der Arbeit führt in der Regel zu arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Neben der Nichtzahlung des Lohnes für die Zeit der Entfernung vom Arbeitsplatz kommen auch Abmahnungen und ggf. eine Kündigung in Betracht. Kann der Betroffene sein Verhalten allerdings nicht mehr steuern, weil eine Suchterkrankung vorliegt, scheiden diese Maßnahmen aus. In Betracht kommt dann eine auf die Krankheit gestützte personenbedingte Kündigung, deren Rechtfertigung an andere, insgesamt strengere Voraussetzungen geknüpft ist. Da sich meistens nicht von vornherein sagen lässt, ob eine Suchterkrankung vorliegt oder nicht, gibt es in vielen Betrieben und Dienststellen des öffentlichen Dienstes sogenannte Stufenpläne, durch die möglichst zeitig Probleme angegangen werden sollen. Diese Stufenpläne bieten den Betroffenen auf der einen Seite Chancen, da sie mit Hilfsangeboten (Kontakt mit betrieblichen oder externen Suchtberatern, Entzugsbehandlung) verbunden sind. An dieser Stelle nimmt der Betriebsarzt eine Schlüsselrolle ein. Einerseits ist er der Arbeitssicherheit verpflichtet, andererseits aber auch den Interessen des betroffenen Arbeitnehmers.
Es gibt viele Ursachen für Beeinträchtigungen wie Müdigkeit, Medikamentenkonsum (rezeptfrei, verschreibungspflichtig, illegal), Konsum von illegalen Drogen etc. Eine durch Cannabiskonsum bedingte Beeinträchtigung am Arbeitsplatz kann unter Umständen schwerwiegende Folgen haben. Ein wichtiger Schritt zur Prävention ist die Entwicklung klarer Richtlinien für alle Beteiligten am Arbeitsplatz mit einem fairen und konsistenten Ansatz (Betriebsvereinbarung!). Gegenwärtig gibt es nur begrenzte Möglichkeiten, die Beeinträchtigung von Cannabis mittels Screening-Tests zu objektivieren. Darüber hinaus gelten Substanzprüfungen in Deutschland generell als diskriminierend und werden nur in bestimmten Situationen (z. B. bei sicherheitsrelevanten Arbeiten) gestattet. Ähnliche Regularien gelten in Kanada. So weist die kanadische Menschenrechtskommission darauf hin, dass „Drogentests am Arbeitsplatz ein komplexes Thema sind, das viele Faktoren beinhaltet, wie z. B.: Menschenrechtsgesetzgebung, Sicherheit, Privatsphäre, Arbeitsnormen, Bestimmungen von Tarifverträgen, regulatorische Anforderungen und das Niveau der Überwachung am Arbeitsplatz“. Anders als bei einem Alkoholtest weist ein positives Testergebnis z. B. für THC-COOH im Urin nicht unbedingt darauf hin, dass der Proband in diesem Moment beeinträchtigt ist. Wie vom American College of Occupational and Environmental Medicine festgestellt wird, „sollten Mitarbeiter, die am Arbeitsplatz beeinträchtigt zu sein scheinen, immer nach den Richtlinien des Arbeitgebers beurteilt werden. Der Nachweis von THC-COOH im Urin korreliert nicht mit einer Beeinträchtigung. Die THC-Konzentration im Blut korreliert direkter, aber alle Bewertungen sollten eine klinische Gesamtbewertung der Beeinträchtigung beinhalten.“ Die Problematik der Beurteilung einer möglichen Beeinträchtigung durch Freizeitgebrauch von Cannabis ergibt sich aus der komplizierteren Pharmakokinetik von THC im Vergleich zu Alkohol. Während der Alkoholabbau im Organismus einer Kinetik nullter Ordnung folgt (Abbildung 2), wird THC mehrphasig verteilt und verstoffwechselt (Abbildung 3). Nähere Informationen zur Problematik der Analytik von Cannabinoiden sind im Beitrag von F. Peters in diesem Heft zu finden.
Nach wie vor gibt es erhebliche Unklarheiten zum Umgang mit Mitarbeitern, die unter dem Verdacht des gelegentlichen oder regelmäßigen Konsums von Cannabis stehen. Gesetzliche Regelungen gibt es hierfür nicht, sieht man von einigen wenigen Vorschriften (z. B. Unfallverhütungsvorschrift für Wachleute) ab. Entscheidend ist nach den Unfallverhütungsvorschriften die Fähigkeit, die Arbeit verrichten zu können, ohne andere oder sich selbst zu gefährden (§ 15 Abs. 2, 3 Unfallverhütungsvorschrift BGV A 1). Der Umgang mit Cannabis (auch im Hinblick auf die Legalisierung) im Betrieb sollte durch eine Betriebsvereinbarung geregelt werden, so wie dies teilweise schon für Alkohol geschieht. In solchen Vereinbarungen wird z. B. ein absolutes Alkoholverbot geregelt. Klarheit über den Umgang mit Cannabis ist für alle Beteiligten wichtig. Kommt es unter Einfluss von Cannabis zu einem Unfall, stellt sich die Frage nach der Haftung (z. B. fahrlässige Körperverletzung, Regress der Berufsgenossenschaft, Arbeitnehmerhaftung, Verletzung der Aufsichtspflicht durch Vorgesetzte, Abmahnung, Kündigung). Große Unsicherheit besteht häufig, wenn bei einem Mitarbeiter erkennbare Anzeichen bestehen, dass ein sicheres Arbeiten nicht mehr gewährleistet ist (z. B. „verdächtige Fehlhandlungen“). Es ist hier eine Regelung zu treffen, die einerseits die Persönlichkeitsrechte wahrt und andererseits den ggf. entstehenden besonderen Gefahren für die Sicherheit im Betrieb Rechnung trägt. Kann er/sie den Verdacht nicht ausräumen, sollte als Entlastungsmöglichkeit ein Testverfahren (z. B. Urinscreening) angeboten werden. Dies ist von Bedeutung, wenn „arbeitsrechtliche Schritte“ anstehen, um sich vom ungerechtfertigten Vorwurf eines Fehlverhaltens zu entlasten. Ein allgemeines, anlassunabhängiges Drogenscreening ist aus rechtlichen Gründen in Deutschland nicht möglich. Über die moralischen, ethischen und juristischen Probleme von Test auf Alkohol und illegale Drogen am Arbeitsplatz wird auch international schon lange und kontrovers diskutiert. In den USA wurden erstmals 1988 Drogentests am Arbeitsplatz bei Staatsangestellten durchgeführt und die dafür erforderlichen Standards festgelegt. Das „Federal Workplace Testing Program“ (U.S. Department Health and Human Services Drug Testing Standards) regelt die Untersuchung von Haar-, Speichel-, Schweiß- und Urinproben auf THC, Kokain, Phencyclidin, Opiaten (mit Schwerpunkt Heroin) und Amphetaminen am Arbeitsplatz unter Verwendung von Schnelltests. In Finnland wurde im Jahr 2004 eine entsprechende Gesetzgebung verabschiedet. Über eine sehr ähnliche Gesetzgebung verfügt auch Italien.
Zusammengefasst kann man feststellen, dass die beabsichtigten und unbeabsichtigten pharmakologischen Effekte von Cannabis auf die neurokognitive Leistungsfähigkeit von mehreren Stunden bis zu mehr als 28 Tagen nach Abstinenz andauern können. Auch die Blutspiegel korrelieren nicht immer mit der aktuellen Beeinträchtigung des Probanden. Die Beurteilung erfordert neurokognitive Tests. Auch die Dauer der Beeinträchtigung kann nicht sicher vorhergesehen werden. Daher kann der Freizeitkonsum von Cannabis durch Arbeitnehmer aus arbeitsmedizinischer Sicht nicht als unbedenklich angesehen werden.
Literatur bei der Verfasserin.
Silke Kretzschmar
Praxis für Arbeitsmedizin
Vorsitzende des Berufsverbandes selbstständiger Arbeitsmediziner und freiberuflicher Betriebsärzte e. V.
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