Einleitung
Mit dem „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ vom 6. März 2017 wurde die ärztliche Verordnung von Cannabisarzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung ermöglicht.1 Versicherte haben nach § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünf (SGB V) Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität bzw. auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
- eine schwerwiegende Erkrankung besteht, und
- eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht oder im Einzelfall unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann, und
- eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Auch nach § 13 Abs. 1 Betäubungsmittelgesetz (BtmG) ist eine Indikation für die Behandlung mit Betäubungsmitteln unter anderem nur dann gegeben, wenn die Anwendung zur Erreichung des Therapieziels unerlässlich ist. Kommen andere Maßnahmen in Betracht (z.B. Änderung der Lebensweise, physiotherapeutische Behandlung, Psycho- oder Verhaltenstherapie, Anwendung von anderen Arzneimitteln) ist diesen Vorrang zu geben.2
Mit dem „Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften“ (Cannabisgesetz – CanG) vom 27.03.2024 hat die Ampelkoalition die weitere Legalisierung von Cannabis in Deutschland beschlossen, ein zentrales Projekt im Koalitionsvertrag. Das „Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis“ (Konsumcannabisgesetz – KCanG) stellt seit dem 01. April 2024 den Besitz, Konsum und Anbau zur Eigenverwendung mit Einschränkungen straffrei. Seit dem 01. Juli 2024 sind auch der gemeinschaftliche Anbau und die Weitergabe in sog. Anbauvereinigungen möglich.
Sowohl der medizinische Konsum als auch die erfolgte Legalisierung mit zu erwartender breiterer Nutzung werfen juristische und auch medizinische Fragen im Hinblick auf die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen (Fahreignung) auf, zumal Studien auf ein bis 2-fach erhöhtes Unfallrisiko hinweisen.3 4
Gesetzliche Regeln zur Fahrerlaubnis und Fahreignung
Unterschieden werden müssen zunächst strafrechtliche und verwaltungsrechtliche Normen. Das strafrechtliche Verfahren hat das Sanktionieren von individuellem Fehlverhalten zum Ziel und soll abschrecken, während das verwaltungsrechtliche Verfahren im Straßenverkehr primär die Aufrechterhaltung der allgemeinen Verkehrssicherheit und den Schutz von Dritten als Ziel hat.5
Nach § 2 Straßenverkehrsgesetz (StVG) ist zum Führen von Kraftfahrzeugen eine behördliche Fahrerlaubnis erforderlich, welche durch eine amtliche Bescheinigung („Führerschein“) nachzuweisen ist. Diese ist zu erteilen, wenn der Bewerber körperlich, geistig und charakterlich zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet ist und nach § 3 StVG in Verbindung mit § 46 Abs. 1 Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) zu entziehen, wenn sich jemand als ungeeignet erweist. Der Begriff der Eignung wird in § 11 FeV näher geregelt, hier wird insbesondere auf die Anlage 4 der FeV verwiesen, welche eine Auflistung häufiger Erkrankungen und Mängel mit Einschränkung der Fahreignung enthält, unter anderem werden auch Cannabis (Nr. 9.2) und Arzneimittel (Nr. 9.6) explizit genannt. Weitere Ausführungen finden sich in den von der Bundesanstalt für Straßenwesen herausgegebenen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung und in von den Fachgesellschaften (DGVP, DGVM) herausgegebenen Kommentaren.2 6 7
Jegliches Führen von Fahrzeugen im Verkehr unter Einfluss von namentlich in Anlage 4 FeV genannten berauschenden Mitteln (u.a. wird Cannabis genannt) ist mindestens eine Ordnungswidrigkeit (§ 24a Abs. 2 StVG), ausreichend ist bereits der laborchemische Nachweis der Substanz im Blut. Aus der regelmäßigen Rechtsprechung lässt sich für Cannabiskonsum ein Grenzwert von 1,0 Nanogramm Tetrahydrocannabinol pro ml Blutserum ableiten (BGH, Beschluss vom 14.02.2017, Az.: 4 StR 422/15), eine Anhebung des Grenzwertes auf 3,5 ng/ml mit Einschränkungen (Fahranfänger, Mischkonsum) wurde am 6. Juni 2024 vom Bundestag beschlossen (BT-Drucks. 20/11370). Die Ordnungswidrigkeit wird entsprechend dem Bußgeldkatalog – abhängig von der Zahl bisheriger einschlägiger Verstöße – mit einem Bußgeld zwischen 500 € und 1500 €, ein bis drei Punkten im Fahreignungsregister und einem Fahrverbot von ein bis drei Monaten bestraft. Treten zusätzlich Einschränkungen im Fahrverhalten oder Ausfallerscheinungen auf, handelt es sich nicht mehr um eine Ordnungswidrigkeit, sondern um eine Straftat nach § 316 StGB (Geld- oder Freiheitsstrafe bis 1 Jahr, Entzug der Fahrerlaubnis für mindestens 10 Monate, zwei bis drei Punkte im Fahreignungsregister), bei Gefährdung von Menschen oder bedeutenden Sachwerten auch nach § 315c StGB (Geld- oder Freiheitsstrafe bis 5 Jahre, Entzug der Fahrerlaubnis, Punkte). Jedes mit einem Bußgeld, einem Strafbefehl oder einer Verurteilung abgeschlossene Verfahren wird automatisch auch an die zuständige Fahrerlaubnisbehörde gemeldet, welche ihrerseits ein verwaltungsrechtliches Verfahren eröffnet und in der Regel die Fahreignung überprüft, zum Beispiel durch Anordnung einer Medizinisch-Psychologischen Untersuchung (MPU).
Bei Cannabiskonsum zu Genusszwecken existiert im Hinblick auf die Fahreignung eine gefestigte Rechtsprechung zur bisherigen Gesetzeslage: Die Beurteilung erfolgt nach Nr. 9.2 der FeV Anlage 4: bei regelmäßigem Konsum (nahezu täglich oder gewohnheitsmäßig) besteht definitiv keine Fahreignung (9.2.1). Bei der gelegentlichen Einnahme von Cannabis (mind. 2 voneinander getrennte Konsumvorgänge) besteht die Fahreignung nur, wenn der Substanzkonsum und die Teilnahme am Straßenverkehr voneinander getrennt werden kann und wenn parallel kein Alkohol und keine anderen psychoaktiven Substanzen nachgewiesen werden (9.2.2).8
„Bei einem gelegentlichen Konsumenten von Cannabis, der erstmals unter einer seine Fahrsicherheit möglicherweise beeinträchtigenden Wirkung von Cannabis ein Kraftfahrzeug geführt wurde, darf die Fahrerlaubnisbehörde in der Regel nicht ohne weitere Aufklärung von fehlender Fahreignung ausgehen und ihm unmittelbar die Fahrerlaubnis entziehen. In solchen Fällen hat sie […] nach pflichtgemäßem Ermessen über die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens (MPU) zu entscheiden“ (BVerwG, Urteil vom 11.04.2019, AZ: 3 C 8.18). Darf die Behörde von der fehlenden Fahreignung ausgehen und die Fahrerlaubnis entziehen, kommt es bei der MPU als Voraussetzung für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis darauf an, ob zukünftig der Substanzkonsum und die Teilnahme am Straßenverkehr voneinander getrennt werden können.8 Eine eindeutig definierte Grenze zwischen gelegentlichem (mindestens zwei voneinander getrennte Konsumakte) und regelmäßigem Konsum gibt es aktuell nicht. Zum KCanG und den gleichzeitig erfolgten Änderungen der FeV gibt es aktuell noch keine Rechtsprechung.
Deutlich komplexer wird die Rechtslage beim THC-Konsum aus medizinischen Gründen. Hierzu gibt es inzwischen wenige, teils deutlich divergierende Entscheidungen verschiedener Gerichte, aber noch keine letztinstanzlichen Entscheidungen. Zumeist wird das Arzneimittelprivileg angenommen, so dass die Beurteilung der Fahreignung nach Nr. 9.6 der FeV Anlage 4 (Dauerbehandlung mit Arzneimitteln) erfolgen muss. Hierbei kommt es auf folgende Faktoren an:
- Die Substanz ist medizinisch indiziert und ärztlich verordnet.
- Die Substanz wird bestimmungsgemäß für einen konkreten Krankheitsfall eingenommen und die Behandlung ärztlich überwacht.
- Es sind keine Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit festzustellen.
- Die Grunderkrankung sowie deren Symptomatik weisen keine verkehrsmedizinisch relevante Ausprägung auf.
- Es nicht zu erwarten ist, dass der oder die Betroffene in Situationen am Straßenverkehr teilnimmt, in denen seine oder ihre Fahrsicherheit durch die Medikation oder Erkrankung eingeschränkt ist.7 9
Bei der Beurteilung wird auch berücksichtigt, inwiefern die – als Voraussetzung für die Verordnung von Medizinalcannabis vorliegende schwere – Grunderkrankung durch die Therapie so weit gelindert wird, dass eine sichere Teilnahme am Straßenverkehr überhaupt wieder möglich wird.6
Praktische Aspekte der verkehrsmedizinischen Begutachtung
Zweifel an der körperlichen, charakterlichen oder geistigen Eignung muss die Fahrerlaubnisbehörde aufklären. In vielen einfach gelagerten Fällen ist eine kurze (haus-)ärztliche Bestätigung der Fahreignung ausreichend, während bei komplexen Fragestellungen zumeist eine Begutachtung durch einen Facharzt des jeweiligen Gebiets mit verkehrsmedizinischer Qualifikation oder eine MPU angeordnet wird.10 Der behördlichen Aufforderung ist zu entnehmen, über welche fachliche Qualifikation der das Gutachten erstellende Arzt verfügen muss und welche konkreten Fragestellungen im Gutachten beantwortet werden sollen, daher sollte diese dem Gutachter vorliegen.
Die Fachgebietsbeschränkung gilt auch bei verkehrsmedizinischen Gutachten, sofern dieses nicht von einer von der Bundesanstalt für Straßenwesen anerkannten MPU-Begutachtungsstelle erstellt wird. Aufgabe des ärztlichen Gutachters ist die Beantwortung der in der behördlichen Anordnung gestellten Fragen.7 10 Dazu gehört die Beschreibung von Mängeln und Einschränkungen sowie die Einschätzung, welchen Einfluss diese auf die Fahreignung haben (z.B. „Aufgrund einer peripheren Nervenläsion verminderte Kraft im rechten Fuß entsprechend Kraftgrad M2; nicht zur sicheren Betätigung der Pedale ausreichend. Im Übrigen durch Nervenschaden keine Beeinträchtigung der Fahreignung zu erwarten.“). Auf Basis dieser Defizitbeschreibung entscheidet die Behörde, ob die Fahreignung entfallen oder eingeschränkt ist und ob ggf. ein technischer Sachverständiger bestellt wird, welcher eine Empfehlung zu notwendigen Umbauten am Fahrzeug (z.B. Umbau auf Handgas) oder sonstigen Auflagen gibt. Die endgültige Entscheidung über Auflagen obliegt der Behörde.10
Grundsätzlich ist der Gutachter an die in der Aufforderung gestellten Beweisfragen gebunden, insofern ist der Umgang mit während der Begutachtung erkannten zusätzlichen Mängeln problematisch. Solche Befunde müssen mit der begutachteten Person besprochen werden (Sicherungsaufklärung!), nach individueller Abwägung (Einsicht, Schweigepflicht vs. allgemeine Verkehrssicherheit) kann im Gutachten der mögliche Mangel benannt und eine zusätzliche Begutachtung durch einen entsprechenden Facharzt empfohlen werden.
Die ärztliche Schweigepflicht gilt insbesondere gegenüber der Fahrerlaubnisbehörde: das Gutachten wird grundsätzlich der begutachteten Person übergeben oder übersandt, diese entscheidet, ob sie es bei der Behörde einreicht oder in der Hoffnung auf eine günstigere Einschätzung weitere Gutachter beauftragt. Die verkehrsmedizinische Begutachtung ist keine Kassenleistung und wird immer als privatärztliche Leistung liquidiert.10
Medizinische Aspekte
der Fahreignung
Aus medizinischer Sicht sind insbesondere die Auswirkungen von Cannabinoiden auf die Fahreignung von Interesse. Die Einnahme von Cannabis führt abhängig von der Applikationsform bereits nach wenigen Sekunden bis Minuten zu einer Aktivierung verschiedener Cannabinoidrezeptoren mit einer Vielzahl von somatischen und psychischen Effekten, welche überwiegend durch den Wirkstoff ∆9-Tetrahydrocannabinol (THC) verursacht werden (vgl. Tabelle 1). 11 12
Viele der genannten akuten THC-Wirkungen können zu einer Einschränkung der allgemeinen Leistungsfähigkeit und damit der Fahreignung führen.
Einen wesentlichen Einfluss auf die Fahreignung hat das Sehvermögen. Aufgrund der durch die Cannabiswirkung erweiterten Pupillen wurde in Studien mehr Streulicht im Auge gemessen, was zu einer stärkeren Blendung durch Gegenlicht führt.13 Studien zeigen zudem, dass die Wahrnehmung von Kontrasten und die Tiefenwahrnehmung gestört ist, hierdurch konnten die Probanden Entfernungen nicht mehr korrekt einschätzen.13–15 Die reduzierte Leistungsfähigkeit wird durch zahlreiche Studien im Fahrsimulator bzw. im Straßenverkehr (natürlich mit Fahrlehrer) bestätigt, in denen die Zahl der Fahrfehler (insbesondere Probleme beim Halten der Spur) in den ersten zwei bis drei Stunden nach der Einnahme erhöht war, in Kombination mit Alkohol waren die Effekte besonders ausgeprägt.16–24 Vier bis fünf Stunden nach dem Konsum wurden nur noch Fahrtabbrüche wegen Müdigkeit beobachtet.22 Im Unterschied zu Alkohol gibt es keine lineare Beziehung zwischen der THC-Konzentration im Blut und den Einschränkungen der Fahreignung, so dass die Festlegung eines Grenzwertes kaum möglich ist.25–27
Cannabidiol (CBD) hat keine psychomimetischen Effekte, kann jedoch durch Müdigkeit und Benommenheit zu einer Einschränkung der Fahrtauglichkeit führen. Auch hier werden die Effekte durch Alkohol und andere Sedativa potenziert.28
Interessanterweise fallen Cannabiskonsumenten im Straßenverkehr – im Gegensatz zu alkoholisierten Fahrzeugführern – nur selten durch eine unangepasst aggressive Fahrweise auf, vielmehr fahren sie besonders vorsichtig und defensiv. Alkoholkonsumenten tendieren zur Unterschätzung der substanzbedingten Beeinträchtigungen, während Cannabiskonsumenten diese eher überschätzen.18 22
Die wenigen Studien zur Toleranzentwicklung bei regelmäßigem Konsum im Hinblick auf die Fahreignung liefern widersprüchliche Ergebnisse, wahrscheinlich kann nicht von einer Toleranzentwicklung gegenüber allen fahreignungsrelevanten Effekten ausgegangen werden.29 30 Eine Studie konnte sogar zeigen, dass bei langjährigem regelmäßigem Konsum auch bei länger zurückliegender Einnahme vermehrt Fahrfehler auftraten, es fand sich zudem eine Assoziation mit einem frühen Konsumbeginn (vor dem 16. Lebensjahr) und Impulsivität.31 Zur Dauer der Beeinträchtigungen gibt es zwei Flugsimulatorstudien an Piloten, welche auch 24 Stunden nach dem Konsum noch Beeinträchtigungen der Handlungsfähigkeit nachweisen konnten.32 33
Zur Fahreignung mit Medizinalcannabis und Fertigarzneimitteln existieren kaum Daten, die zudem widersprüchlich sind. Während einzelne Arbeiten sowohl für medizinisches als auch für nichtmedizinisches Cannabis eine vergleichbare Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit nachwiesen,34 konnte eine andere Studie an erheblich durch die Grunderkrankung eingeschränkten Multiple-Sklerose-Patienten eine Verbesserung der Fahrleistung nachweisen.35 Zu diesem Themenfeld, insbesondere zu den Fertigarzneimitteln sind dringend weitere Studien erforderlich. In den Fachinformationen der Fertigarzneimittel wird jedenfalls auf eine mögliche Beeinträchtigung der Fahreignung ausdrücklich hingewiesen.36 37
Literatur beim Verfasser.
Dr. med. Marco Reining
SRH Wald-Klinikum Gera GmbH
Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin
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07548 Gera
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