03_Exoskelette

Den Einzelfall im Blick

Dipl.-Ing. Peter Frener, Leiter des Sachgebiets Ergonomie der Berufsgenossenschaft Holz und Metall Foto: BGHM

Herr Frener, für welche Anwendungen sind Exoskelette sinnvoll?

Rund ein Viertel aller Arbeitsunfähigkeitsmeldungen werden durch Muskel-Skelett-Erkrankungen hervorgerufen. Es geht beim Einsatz von Exoskeletten also immer darum, schädliche Beanspruchungen des Muskel-Skelettsystems zu verringern. Dabei unterscheiden wir zwischen einer Entlastung bei ungünstigen Körperhaltungen – etwa Über-Kopf-Arbeiten – und der Unterstützung beim Heben schwerer Lasten. Es gibt zudem zwei Bauarten: aktive und passive Exoskelette.

In welchen Branchen finden die Geräte Einsatz?

Inzwischen findet man Exoskelette besonders im Handel und in der Logistik sowie bei der Holz- und Metallverarbeitung. Auch im Bereich Automotive wird der Einsatz solcher Geräte intensiv geprüft oder sie werden bereits eingesetzt.

Was sind Exoskelette? Persönliche Schutzausrüstungen (PSA) oder Maschinen? Denn dies beeinflusst ja
die zu berücksichtigende rechtliche Grundlage.

Die rechtliche Grundlage hängt vom jeweiligen Einsatz ab. Wenn das Produkt etwa bei einer Behinderung unterstützt oder in der Rehabilitation eingesetzt wird, handelt es sich um ein Medizinprodukt. Gleichzeitig gilt immer, wenn bewegte Teile im Spiel sind, die Maschinenrichtlinie im Hintergrund – auch für Medizinprodukte.

Der Kern der Maschinenrichtlinie ist, Gefahren durch bewegliche Teile abzuwenden.

Genau. Einerseits lassen sich dadurch Gefahren durch Quetschen, Scheren, Schneiden verhindern. Gleichzeitig werden auch Fehlfunktionen sicher ausgeschlossen. Bei aktiven Exoskeletten realisieren die Hersteller dies über spezielle Steuerungen, die Fehlfunktionen weitgehend ausschliessen. Hier wird die gleiche Technik wie in der Robotik eingesetzt. Das ist zwar aufwändig, aber gängig.

Und wo bleibt die PSA-Verordnung?

Wenn der Zweck eines am Körper getragenen Hilfsmittels ist, gesundheitliche Schäden zu vermeiden, dann handelt es sich um eine PSA und der Hersteller muss die PSA-Verordnung berücksichtigen. Da der Zweck von Exoskeletten gerade die Entlastung des Nutzers ist, müssen neben der Maschinenrichtlinie auch die Anforderungen der
PSA-Verordnung eingehalten werden.

Welche Akteurinnen und Akteure im Unternehmen sind also einzubeziehen?

Die Sicherheitsfachkraft muss immer einbezogen werden. Sie muss zum Beispiel berücksichtigen, dass beim Einsatz gewisser Exoskelette – wie dem Chairless Chair – die Fluchtbewegungen anders verlaufen. Zudem gilt es, den Betriebsarzt sowie den Betriebsrat zu involvieren. Und wir empfehlen zusätzlich immer, einen Orthopäden oder Physiotherapeuten hinzuzuziehen.

Wofür benötige ich deren medizinisches Fachwissen?

Hier gilt es breit zu denken: Bei Über-Kopf-Arbeiten muss ich wissen, dass das Blut aus den Armen läuft und wie sich eine Überdehnung der Schulter vermeiden lässt. Und der Chairless Chair ist beispielsweise nicht für Menschen mit einer beginnenden Gleichgewichtsstörung geeignet. Es ist also neben dem allgemeinen Wissen um die Auswirkungen auf den Körper immer auch zu klären, ob der Betroffene die Voraussetzungen mitbringt, um dieses Hilfsmittel zu benutzen. Das ist hier aber nicht anders als beim Bedienen eines Staplers.

Wir haben gesehen, dass ein Exoskelett eine PSA ist – gilt dann nicht das „T-O-P“-Prinzip? (siehe Kasten)

Es gilt selbstverständlich. Exoskelette lassen sich immer dann einsetzen, wenn keine technische oder organisatorische Lösung möglich ist. Das ist häufig auf Baustellen der Fall. Etwa wenn ein schweres, dreifach verglastes, großes Fenster in eine Dachschräge eingebaut werden soll. Aus Sicht des Arbeitsschutzes gilt es, das richtige, passende und funktionierende Hilfsmittel bereitzustellen.

Und worauf muss ich achten?

Wenn ich eine Entlastung des unteren Rückens beim Heben und Tragen erziele, muss ich mir genau überlegen, wohin die Kräfte abgeleitet werden. Dies geschieht in der Regel über die Beine, sodass bei Geräten, die die zusätzlichen Kräfte über Anbindungen an den Oberschenkeln ableiten, die Knie stärker belastet werden. Diese Fragen gilt es, mit einem Orthopäden oder Physiotherapeuten individuell zu klären. Gleichzeitig muss ein Exoskelett die Anforderungen, die ich an eine PSA stelle, erfüllen – das Material sollte zum Beispiel atmungsaktiv sein.

Und wenn ein Exoskelett von mehreren Personen genutzt werden soll?

Bei der Anschaffung ist darauf zu achten, dass es möglichst einfach auf die individuellen Körpermaße angepasst werden kann. Und beim Einsatz muss ich dann für die Einstellzeit einen entsprechenden Vorlauf berücksichtigen.

Für welche Personen sind Exoskelette geeignet? Gibt es zum Beispiel eine Begrenzung des Körpergewichts?

Solche Hilfsmittel decken meist das fünfte bis 95. Perzentil ab. Zurzeit liegt das Maximalgewicht der Anwender bei 120 Kilo. Aber auch hier regelt die Nachfrage den Markt. Gerade in der Möbellogistik arbeiten ja häufig große, kräftige Männer, sodass die Anbieter dies voraussichtlich berücksichtigen werden.

Was ist über die Langzeitwirkungen durch das Tragen von Exoskeletten bekannt? Wie sieht es etwa mit dem Muskelabbau aus?

Bei dieser relativ jungen Technologie haben wir noch keine aussagekräftigen Langzeiterfahrungen. Sicher kommt es aber auch immer auf den individuellen Fall an. Als die ersten E-Bikes auf den Markt kamen, hieß es ja auch, dass dadurch die Muskeln abgebaut werden. Das stimmt nur zum Teil, denn viele Nutzer sind erst durch das E-Bike wieder in Bewegung gekommen.

Können Sie Empfehlungen für die Tragedauer von Exoskeletten geben?

Das kommt ganz auf die Art des Produkts an. Der so genannte Chairless Chair lässt sich bequem den ganzen Tag über nutzen. Eine Oberarm-Unterstützung für Über-Kopf-Arbeiten muss ich nach einer gewissen Zeit ablegen, um Druckstellen zu vermeiden. Daher rate ich, sich langsam heranzutasten.

Wie sind Ihre Beobachtungen – werden Exoskelette wirklich zum Schutz der Beschäftigten oder zur Leistungssteigerung eingesetzt?

Unser Wunsch ist natürlich, dass sie präventiv zur Entlastung des Muskel-Skelettsystems der Beschäftigten genutzt werden. Aber die Hersteller gehen in die Betriebe, um verschiedene Einsatzszenarien auszuprobieren. Dabei geht es auch um Produktivität.

Wann werden die Anwender mehr über die Langzeitwirkungen erfahren?

Wir planen für 2019 ein Forschungsprojekt, bei dem auch die Langzeitwirkungen von Exoskeletten untersucht werden sollen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Andrea Stickel.


Das TOP-Prinzip

Wenn die Gefährdung des Beschäftigten nicht durch

  • Technische und
  • Organisatorische Maßnahmen
    abzuwenden ist, kommen
  • Persönliche Maßnahmen zur Abwehr und Minderung von Gefahren zum Einsatz.

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