Neben Anwendungen in privaten Consumerbereichen, wie z. B. der Sprachassistenz im heimischen Wohnzimmer oder dem Empfehlungssystem der Videostreamingplattform, werden KI-basierte Verfahren und Systeme vornehmlich in der Industrie zum Zwecke einer intelligenten Automatisierung eingesetzt (siehe Infobox 1). Aber auch in speziellen Anwendungsbereichen beziehungsweise zu besonderen Zwecken, wie zum Beispiel zur Unterstützung, Verbesserung und Effizienzsteigerung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, können Methoden und Verfahren der künstlichen Intelligenz und des maschinellen Lernens sinnvoll eingesetzt werden.
Ein effizienter Arbeitsschutz und eine wirksame Unfallvermeidung sind für die Schaffung und den Erhalt sicherer und menschengerechter Arbeitsbedingungen besonders wichtig. Ziel ist es, die Beschäftigten wirksam vor arbeitsbedingten Gefahren und gesundheitlichen Schädigungen zu schützen und damit Unfälle am Arbeitsplatz zu verhüten. Die Grundlage für den betrieblichen Arbeitsschutz ist das Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG). Es verpflichtet den Arbeitgeber (Stichwort: Unternehmerpflicht), Gefährdungsbeurteilungen am Arbeitsplatz durchzuführen und über notwendige Schutzmaßnahmen zu entscheiden.
KI kann den Arbeitgeber und die für den Arbeits- und Gesundheitsschutz Verantwortlichen bei der Ausführung ihrer Pflichten unterstützen, wie nachfolgend an einigen Beispielen aufgezeigt wird. Hauptaugenmerk wird hierbei auf einer Mustererkennung liegen. Bei allen Vorteilen, die KI für den Arbeits- und Gesundheitsschutz mit sich bringt, muss generell bei jeder KI-Anwendung die Verwendung vorurteilsfreier und nicht diskriminierender Daten angestrebt werden; mehr dazu in einem der nachfolgenden Beispiele.
Potenziale der KI am Beispiel der Gefährdungsbeurteilung
Im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung (§ 5 ArbSchG) werden systematisch vorhandene Gefährdungen erhoben und Risiken beurteilt, die im Kontext von Arbeitstätigkeiten auftreten können. Anschließend werden Maßnahmen festgelegt, zum Schutz von Beschäftigten umgesetzt und auf ihre Wirksamkeit überprüft. Der Prozess der Gefährdungsbeurteilung ist zu dokumentieren und regelmäßig fortzuschreiben, um Verbesserungen einleiten zu können.
Durch intelligente Software mit entsprechenden Modellen der KI entstehen neue Möglichkeiten der digitalen Unterstützung bei der Erstellung und Überprüfung von Gefährdungsbeurteilungen. Nachfolgend zwei Szenarien, zum einen mit Bezug auf starre (dokumentierte) Daten und zum anderen mit (dynamischen) Echtzeitdaten.
Szenario 1: Ein Algorithmus analysiert die Text- und Bilddaten einer bestehenden Gefährdungsbeurteilung im Hinblick auf Datenkonsistenz, überprüft die Vollständigkeit und Sinnhaftigkeit der dokumentierten Daten und bewertet das Risiko der Gefährdungen, unter Anwendung einer Risikomatrix nach Nohl, objektiv. Der Algorithmus lernt aus Beispieldaten, die ihm zugrunde liegen, und erstellt daraus ein Modell; dieses kann entsprechend auf neue Daten (eine betriebsspezifische Gefährdungsbeurteilung) angewandt werden. Mittels eines Datenabgleichs gibt der Algorithmus dem Ersteller einer Gefährdungsbeurteilung Hinweise auf dokumentierte unsichere Situationen, die es im Dokument zu beheben gilt. Beispiele hierbei können u. a. sein:
- Bezüge zu Quellen wie Technischen Regeln, Normen o. Ä. sind veraltet
- Unklare, nicht passende Formulierungen bei bisher getroffenen Schutzmaßnahmen
- Risiko ist zu niedrig/hoch eingestuft
- Arbeitsmittel, Tätigkeiten und ermittelte Gefährdungen passen nicht zueinander
- Klassifikation der Gefährdungen stimmt nicht mit ermittelten Gefährdungen überein
- Es bestehen Lücken in einer Gefährdungsbeurteilung, da beispielsweise für einen bestimmten Arbeitsplatz typisch vorkommende Gefährdungen fehlen.
Szenario 2: Bestehende Gefährdungsbeurteilungen werden durch Erkenntnisse, die aus (Echtzeit-)Daten gewonnen werden, wie z. B. Daten von Arbeitsmitteln, immer unter Berücksichtigung des Datenschutzes, in Echtzeit aktualisiert. Dies bedingt eine Ausstattung der Arbeitsmittel usw. mit Sensoren – Stichwort: Cyber-physische Systeme (siehe Infobox 2). Frühzeitig und beinahe in Echtzeit kann somit z. B. der sicherheitstechnische Zustand von Arbeitsmitteln erfasst werden. Wird beispielsweise anhand von Echtzeitdaten und der Zuhilfenahme eines Hand-Arm-Vibrations-Belastungsrechners festgestellt, dass der Tagesexpositionswert beim Einsatz eines Winkelschleifers regelmäßig überschritten wird, so kann in der Gefährdungsbeurteilung an der betreffenden Stelle eine Schutzmaßnahme mit automatischer Meldung an den betroffenen Abteilungsleiter generiert werden. Damit lässt sich z. B. erkennen, ob nicht-geeignete Arbeitsmittel verwendet werden.
Potenziale der KI am Beispiel von Unfallberichten
Verfahren der KI bzw. des maschinellen Lernens eignen sich des Weiteren für die Analyse von Unfallberichten (siehe Abbildung), beispielsweise Clustering-Verfahren, bei denen ein KI-Modell unüberwacht lernt. Das sogenannte unüberwachte Lernen (unsupervised machine learning) funktioniert ohne Nutzerinteraktion; der Nutzer muss keine Interpretation beziehungsweise Bewertung der Ergebnisse, die das Softwareprogramm auf Basis der Trainingsdaten fällt, vornehmen; auch eine vorher bekannte Zuordnung oder Kennzeichnung der Eingabedaten ist nicht erforderlich.
Das lernende Softwareprogramm erkennt in den Eingabedaten – in diesem Fall ca. mindestens 100 strukturierte und gegebenenfalls digital aufbereitete Unfallberichte der vergangenen Jahre – bestimmte Muster und Strukturen und interpretiert diese automatisch. Mithilfe eines KI-Verfahrens wie dem unüberwachten Lernen mittels Clustering wäre es möglich, präventiv Gefahrenpotenziale bzw. zukünftige Unfallschwerpunkte aufzuzeigen. Basis hierfür ist das Erkennen von Zusammenhängen zwischen zum einen klaren Einflussfaktoren wie z. B. Art der Verletzung, Unfallzeitpunkt, Wochentag und Unfallort. Zum anderen könnte das Modell auch auf den ersten Blick weniger offensichtliche Einflussfaktoren wie Temperatur und Luftdruck zum Unfallzeitpunkt oder sonstige Ereignisse beinhalten, die sich als signifikant für das Entstehen von Unfällen herauskristallisiert haben.
Eine Parallele dieses Anwendungsfalls kann zur Verbrechensbekämpfung mittels KI – auch pre-crime genannt – gezogen werden. Hierbei soll KI die Aktionen der Polizei so steuern, dass sie vor dem Verbrechen eintrifft. Die KI sagt also voraus, wo und wann ein Verbrechen geschehen wird. Allerdings hat sich hierbei u. a. gezeigt, dass Algorithmen nicht vorurteilsfrei sind und damit zu Fehlentscheidungen führen können. Beispiel: Lebensanschauungen von Programmierern sind u. a. derart in Algorithmen eingeflossen, als dass die Polizei vermehrt in Gegenden fährt, wo in den letzten Jahren viele Straftaten von Kleinkriminellen einer bestimmten ethnischen Herkunft begangen wurden.
Für das Anwendungsbeispiel ist eine große Datensammlung erforderlich. Das Potenzial einer Analyse von Unfallberichten fußt also auf einer breiten unternehmens- und branchenübergreifenden Datenbasis. Bei Unfallversicherungsträgern existiert sicherlich eine Datengrundlage, die dafür herangezogen werden könnte. Ob diese BG-übergreifend genutzt wird bzw. werden kann, entzieht sich der Kenntnis der Autoren. Ziel könnte eine Datenbank sein, die Informationen zu Unfällen und deren (wahren) Ursachen beinhaltet. Nicht nur eine Untersuchung von Unfällen, sondern auch eine Ableitung von Maßnahmen ist mit KI möglich. Der Benutzer gibt ein, welche Art von Unfall passiert ist (bei Tätigkeit X an Maschine Y) und erhält von einem KI-System Vorschläge bzw. Hinweise, um diese Art von Unfällen zukünftig zu verhindern.
Anwendungsbereiche der KI im Arbeits- und Gesundheitsschutz
Neben den oben gezeigten potenziellen KI-Anwendungen am Beispiel der Analyse von Gefährdungsbeurteilungen und Unfallberichten existieren Ansätze des maschinellen Lernens, die teilweise bereits in der Praxis erprobt sind bzw. werden. Beispielhaft soll an dieser Stelle der Einsatz des maschinellen Lernens für die Vorhersage von Stress am Beispiel der Logistik genannt sein [1]. Gerade in der Logistik müssen Beschäftigte, u. a. auch aufgrund des demografischen Wandels, auf lange Sicht gesund, zufrieden, arbeitsfähig und produktiv sein. Mithilfe der Software „Dynamische Pause“ soll Stress in Folge mentaler und physischer Belastungsfaktoren in der Logistik präventiv vorgebeugt werden. Infolge individualisierter Erholungspausen als Gestaltungselement können Unternehmen mit einem KI-System unterstützt werden, Personalressourcen entsprechend der dynamischen Anforderungen der Logistik flexibler einzusetzen.
Daten sind für die Funktionsweise der Software „Dynamische Pause“ oder die anderer KI-Anwendungen eine essenzielle Voraussetzung. Im Bereich des Arbeits- und Gesundheitsschutzes kann auf ein breites Spektrum an Daten zurückgegriffen werden. Eine gezielte Erfassung, Speicherung, Aufbereitung und Verarbeitung dieser Daten bietet daher großes Potenzial für den Einsatz von KI. Hierbei ist u. a. an folgende Bereiche zu denken, wobei nicht zwischen direkten oder indirekten Daten bzgl. des Arbeits- und Gesundheitsschutzes unterschieden wird [2]:
- Daten zu Personen: Nutzung von persönlicher Schutzausrüstung (z. B. Exoskelette), Gesundheitsparameter wie Konstitution, Körperhaltung etc.
- Daten aus der Arbeitsorganisation: Personaleinsatz, Arbeitszeit, Schichtarbeit, Ruhezeiten, Analyse von Unfallberichten (siehe oben) etc.
- Daten bzgl. Aufgaben und Tätigkeiten: Arbeitsbelastung, Störungen, Über- oder Unterforderung etc.
- Daten bezogen auf Arbeitsmittel: Ergonomische Parameter von Werkzeugen, Hard- und Software, Maschinen und weitere Komponenten etc.
- Daten bezogen auf Arbeitsumgebung, Arbeitsraum, Arbeitsplatz: Raumklima, Beleuchtung, Lärm, Staub usw.
Gestaltungsaspekte bei der Einführung von KI-Anwendungen
KI-Technologie ist nicht nur technologisch, sondern auch arbeitspolitisch anspruchsvoll. Bestehenden Hindernissen und Herausforderungen bei der Einführung von KI muss mit geeigneten Gestaltungsansätzen begegnet werden. Beschäftigte in Unternehmen und damit die zukünftigen Anwender von KI-Systemen äußern häufig Befürchtungen oder Ängste bezüglich der Funktionsweise von KI-Systemen und des Umgangs mit teils personenbezogenen Daten im Arbeitsprozess [4]. Unternehmensleitungen und die für eine KI-Einführung zuständigen betrieblichen Akteure befürchten zum Teil zu Recht, dass Beschäftigte KI aus den oben genannten Gründen nicht akzeptieren und nutzen werden. Für Unternehmensleitungen bedeutet dies zumeist eine besondere Herausforderung beim Einführungsprozess beziehungsweise beim soziotechnischen Gestaltungsprozess eines KI-Systems. Ein entsprechendes Changemanagement und ein dementsprechend ausgestalteter Beteiligungsprozess können dazu beitragen, Beschäftigten ihre Sorgen und Berührungsängste zu nehmen, Interesse und Akzeptanz für Veränderungen zu erreichen und den Datenschutz sicherzustellen.
Im Umgang mit KI zeigen sich daher gewisse Risiken, denen es mit den entsprechenden Gestaltungsansätzen und Lösungsmöglichkeiten entgegenzuwirken gilt (siehe Tabelle).
Ausblick auf Forschung im
Bereich KI
Entsprechende Qualifizierungsprogramme, damit Fach- und Führungskräfte KI-Wissen und -Qualifikationen erwerben oder vertiefen können, sowie eine anwendungsorientierte Forschung zur KI-Technologie sind daher weiterhin notwendig. Dass diese in Deutschland stattfindet, zeigt die sogenannte KI-Landkarte. Auf dieser werden aktuell mehr als 500 Entwicklungsprojekte in Deutschland aufgezeigt, in denen über sämtliche Branchen, Einsatzfelder und Unternehmensgrößen hinweg KI-Technologien entwickelt und innovative KI-Anwendungen erprobt werden (vgl. [5]). Im Anwendungsbereich Arbeits- und Gesundheitsschutz finden aktuell exemplarisch Entwicklungs- und Forschungsprojekte statt wie beispielsweise
- „KI-Sigs“, in dem an einem KI-Ökosystem für den Gesundheitsbereich geforscht wird.
- „RECUPERA-Reha“, in dem ein Ganzkörper-Exoskelett für die robotische Oberkörper-Assistenz entwickelt wird.
- „BauPrevent“, in dem ein Empfehlungssystem zur Prävention von Gesundheitsschäden auf dem Bau entstehen soll.
- „Eghi“, in dem eine erweiterte Gesundheitsintelligenz für persönliche Verhaltensstrategien im Alltag erprobt wird.
Des Weiteren gibt es Projekte zur kontaktlosen Messung von Vitaldaten, zur Risikobeurteilung bei Mensch-Roboter-Kollaborationsapplikationen und zur Optimierung von Bewegungsabläufen bei körperlichen Arbeiten.
Auch beim Thema KI kommt man an Corona nicht vorbei: Seit 2021 wird ein „Zentrum für Künstliche Intelligenz in der Public-Health-Forschung (ZKI-PH)“ am Robert Koch-Institut aufgebaut. Das ZKI-PH hat zum Ziel, die Themengebiete Bioinformatik, Computational Epidemiology, moderne Datenvisualisierung sowie Big-Data- und Systemanalyse mit den zentralen methodischen Bausteinen des maschinellen Lernens, der künstlichen Intelligenz, der Entscheidungsforschung sowie der Entwicklung realistischer Computersimulationen im Bereich Public-Health-Forschung miteinander zu verzahnen. Damit soll der digitalen Epidemiologie der Weg bereitet werden, um Epidemien des 21. Jahrhunderts noch effektiver begegnen zu können.
Literaturverzeichnis
Foot H, Mättig B, Fiolka M et al. (2021) Einsatz von Maschinellem Lernen für die Vorhersage von Stress am Beispiel der Logistik. Zeitschrift für Arbeitswissenschaft (75):282–295. https://doi.org/10.1007/s41449–021–00263-w.
Zugegriffen am 31.08.2022
Offensive Mittelstand (2019) Umsetzungshilfen Arbeit 4.0. Künstliche Intelligenz für die produktive und präventive Arbeitsgestaltung nutzen: Hintergrundwissen und Gestaltungsempfehlungen zur Einführung der 4.0-Technologien. Heidelberg, Offensive Mittelstand
ifaa – Institut für angewandte Arbeitswissenschaft e. V. (Hrsg) (2021)
KI Zusatzqualifizierung. Für eine produktive und menschengerechte Arbeitsgestaltung. ifaa, Düsseldorf
Terstegen S, Suchy O, Stowasser S, Heindl A (2021) Bausteine für das Change-Management bei der Einführung von KI-Systemen in Unternehmen. In: GfA (Hrsg) Arbeit HumAIne Gestalten. Bericht zum 67. Kongress der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft vom 03. – 05. März 2021. ISBN 978–3–936804–29–4, GfA-Press, Dortmund, Beitrag B.9.4
Plattform Lernende Systeme, Künstliche Intelligenz in Deutschland. https://www.plattform-lernende-systeme.de/ki-in-deutschland.html. Zugegriffen am 26.08.2022