Die Gehorsamspflicht „bedeutet nicht, dass der Angestellte bedenkenlos Anweisungen des Vorgesetzten ausführen darf“1. Selbst für Soldaten gilt: „Die Pflicht eines Untergebenen zum Gehorsam unterliegt rechtlichen Grenzen“2.
§ 15 Abs. 1 der DGUV Vorschrift 1 „Grundsätze der Prävention“ beschreibt einerseits die Pflicht zur Befolgung von Anordnungen, andererseits zeigt die Vorschrift in Satz 4 die Grenzen eben dieser Pflicht auf: „Die Versicherten dürfen erkennbar gegen Sicherheit und Gesundheit gerichtete Weisungen nicht befolgen“. Dementsprechend dürfen Weisungsbefugte nichts Rechtswidriges anweisen und Weisungsunterworfene dieses nicht erfüllen. § 106 der Gewerbeordnung (GewO) zum sogenannten Arbeitgeberdirektionsrecht bringt es auf den Punkt: „Der Arbeitgeber kann Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen“ – aber nur „soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch gesetzliche Vorschriften festgelegt sind“.
Gesetzeskonform und sicherheitsgerecht
Die Grenze der Gehorsamspflicht bilden alle erdenklichen Rechtsvorschriften und sämtliche erkennbare Gefahren. Wenn Beschäftigte – ungeachtet ihrer Position – eine Gefahr erkennen, dann sind sie gemäß immer geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen verantwortlich. Dies konkretisiert zum Beispiel § 16 Abs. 1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG): „Die Beschäftigten haben dem Arbeitgeber oder dem zuständigen Vorgesetzten jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit unverzüglich zu melden“.
Diese Verantwortung bedeutet, dass die einschlägigen Rechtsvorschriften zu ermitteln sind. Nur so lassen sie sich befolgen (siehe Teil 7 dieser Serie: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“). Zudem ist die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung erforderlich. Denn § 15 DGUV Vorschrift 1 spricht nicht von „erkannten“, sondern von – nach reiflicher Überlegung – „erkennbaren“ Gefahren (siehe Teil 6 dieser Serie: „Ein Blick ins Gesetz erleichtert die Rechtsfindung“). Daher muss die Aussage des vorhergehenden zwölften Teils dieser Serie, die Gehorsamspflicht „entlastet den Angestellten von der Verantwortung für Anordnungen“, korrigiert werden in: „Der Angestellte braucht die Rechtmäßigkeit der ihm erteilten Anordnung – mit Ausnahme der strafrechtlichen Würdigung – nicht zu prüfen“3. Insbesondere Arbeitsschutzgesetze „zielen auf eine Begrenzung der Anordnungsbefugnisse und auf eine Einengung der hierarchischen Machtpositionen“ 4 .
Mitdenkend und bedenkend
Diese Grenzen der Folgepflicht zieht die Rechtsprechung selbst für Soldaten. Nach § 11 des Soldatengesetzes (SG) muss der Soldat zwar gehorchen, aber auch gewissenhaft sein. Ein Soldat weigerte sich, Befehle im Zusammenhang mit der Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland am seiner Ansicht nach rechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu befolgen. Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) sprach den Soldaten frei. Denn aus dem SG „ergibt sich, dass ein Soldat einen ihm erteilten Befehl ‚gewissenhaft‘ (nach besten Kräften, vollständig und unverzüglich) auszuführen hat. … Dies bedeutet, dass ein Soldat insoweit mit aller ihm möglichen Sorgfalt und Verantwortung vorzugehen und sich entsprechend zu verhalten hat. … Gefordert ist vielmehr ein ‚mitdenkender‘ und insbesondere die Folgen der Ausführung des Befehls – gerade auch im Hinblick auf die Schranken des geltenden Rechts und die ethischen ‚Grenzmarken‘ des eigenen Gewissens – ‚bedenkender‘ Gehorsam‘“5. Fazit des BVerwG: „Bei dem vom Gesetzgeber geforderten Gehorsam handelt es sich jedoch um keinen ‚blinden‘ oder ‚unbedingten‘ Gehorsam“6.
Kritisch und gewissenhaft
Für Beamtinnen und Beamte ist die (Mit-)Verantwortung bei Weisungen ebenfalls durch Bezugnahme auf ihr Gewissen sowie durch eine Beratungs- und Unterstützungspflicht geregelt. Die Beamtengesetze enthalten detaillierte Vorgaben zum Vorgehen – beispielsweise in § 36 Abs. 2 des Beamtenstatusgesetzes (BeamtStG) und § 62 des Bundesbeamtengesetzes (BBG). Das Recht „verlangt dem Beamten ab, an ihn gerichtete Weisungen kritisch auf die Rechtmäßigkeit des so angeordneten dienstlichen Handelns zu überprüfen; … unterdrückt er seine Zweifel, so bleibt er in der persönlichen Verantwortung, kann sich nicht ‚hinter dem Vorgesetzten‘ verschanzen“ 7 .
All diese Rechtsgrundsätze gelten – auch ohne dass es so detailliert ausgesprochen ist – ähnlich auch für Arbeitnehmende und andere Beschäftigte. Einfach ist das nicht – und Widerspruch oder gar Widerstand können zu arbeitsrechtlichen Konflikten führen. Das Beamten- beziehungsweise Arbeitsrecht geht „von der Zumutung aus, sich in der Hierarchie unbeliebt zu machen“8 . Nicht nur Fachkräfte für Arbeitssicherheit müssen „Bedenkenträger“ sein9.
Dass es eine Pflicht zur Gehorsamsverweigerung geben kann verdeutlichen auch Gerichtsurteile aus dem Arbeitsschutz- und Sicherheitsbereich:
- Der erste recherchierbare Fall stammt aus dem Jahr 1883: Nach einem Unfall an einer nicht ausreichend gesicherten Sägeanlage warf das Reichsgericht einem Betriebsleiter fahrlässige Tötung vor und betonte, selbst ein Verbot des Eigentümers zur Herstellung der Sicherheit „hätte ihn nicht von der strafrechtlichen Verantwortung für die aus dem Betrieb des seiner Leitung unterstellten Sägewerks ohne Schutzvorrichtungen erwachsende, von ihm voraussehbare Gefährdung von Menschenleben entbinden können“.
- Nachdem ein Mitarbeiter einen Stromschlag an einer Freileitung erlitt, verurteilte das Oberlandesgericht (OLG) Dresden einen Obermonteur wegen fahrlässiger Körperverletzung, obwohl er exakt eine – ja im Grundsatz zwingende – Betriebsanweisung befolgte. Denn am Abend vor dem Unfall rief ihn eine Projektleiterin an und sagte, „dass die Betriebsanweisung unvollständig war hinsichtlich der abzuschaltenden Masten“ – und daher hätte der Monteur „die Notwendigkeit der Abschaltung erkennen können“10.
- Nachdem ein Maler einen Stromschlag an einem Verteiler erlitt, belehrte das OLG Köln einen Netzbetriebsmeister, er „kann sich nicht mit dem Hinweis entlasten, er habe lediglich Anweisungen seines Vorgesetzten ausgeführt“, denn „präzise, den konkreten Fall betreffende Anweisungen, denen er unbedingt folgen musste, hat er nicht vorgetragen. Letztlich oblag ihm also die Entscheidung, ob im Einzelfall freizuschalten war oder welche Sicherheitsvorkehrungen sonst zu treffen waren“11.
Dieser letzte Fall zeigt: Ein Unternehmensmitarbeiter hat die uneingeschränkte Entscheidungsverantwortung, soweit es keine Vorgaben in Form von Weisungen gibt – und das ist in großem Umfang der Fall (siehe Teil 9 dieser Serie: „Es entscheiden Menschen, nicht Gesetze“).
1 Zu einer früheren Parallelvorschrift im Bundesangestelltentarifvertrag Uttlinger /Breier /Kiefer /Hoffmann /Dassau, BAT Bd. 1, Juli 2001, § 8 Anm. 5, S. 37.
2 BVerwG, Urteil v. 21.06.2005 (Az. 2 WD 12/04).
3 Clemens /Scheuring /Steingen /Wiese, Kommentar zum Bundesangestelltentarifvertrag (BAT), Bd. 1, 141. Ergänzung, Stand: März 1997, Anm. 21.1, S. 95.
4 Georg Schreyögg, Organisation – Grundlagen moderner Organisationsgestaltung, 5. Aufl. 2008, 3.3.1, S. 137 f.
5 BVerwG, Urteil v. 21.06.2005 (Az. 2 WD 12/04).
Philip Kunig, Das Recht des Öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann /Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Kap. 6, Rn. 130.
6 BVerwG, Urteil v. 21.06.2005 (Az. 2 WD 12/04).
7 Philip Kunig, Das Recht des Öffentlichen Dienstes, in: Schmidt-Aßmann /Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, Kap. 6, Rn. 130.
8 Summer, in Zeitschrift Die Personalvertretung (PersV) 1996, S. 241, 245.
9 Ausführlich zu ihnen Wilrich, Verantwortung und Haftung der Sicherheitsingenieure: Unterstützungs-, Beratungs-, Berichts-, Prüfungs-, Warn- und Sorgfaltspflichten der Fachkräfte für Arbeitssicherheit als Stabsstelle und Unternehmerpflichten in der Linie – mit 15 Gerichtsurteilen und Strafverfahren zu Fahrlässigkeit und Schuld nach Arbeitsunfällen (2022).
10 Urteilsbesprechung in Wilrich, Sicherheitsverantwortung – Arbeitsschutzpflichten, Betriebsorganisation und Führungskräftehaftung, 2016, Fall 23 „Stromschlag Bahnhof Energieleitung“, S. 229 ff.
11 Urteilsbesprechung in Wilrich, Arbeitsschutz-Strafrecht – Haftung für fahrlässige Arbeitsunfälle: Sicherheitsverantwortung, Sorgfaltspflichten und Schuld, 2020, Fall 29 „Stromschlag bei Malerarbeiten im Umspannwerk“, S. 307 ff.