Kurzfassung Der Zusammenhang zwischen Beschwerden in den oberen Extremitäten (Hände, Ellenbogen, Arme und Schultern) und des Nackens sowie der Arbeit am Bildschirm wird seit langem kontrovers diskutiert. Aktuelle Angaben zu den Beschwerdehäufigkeiten (Prävalenzen) und für mögliche Einflussfaktoren (Prädiktoren) liegen für Deutschland jedoch nicht vor. Im Auftrag der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Berlin wurde hierzu eine Querschnittsuntersuchung durchgeführt. 1.065 Mitarbeiter, die mehr als eine Stunde am Tag mit Bildschirmtätigkeit verbringen, wurden zu muskuloskelettalen Beschwerden befragt. 55% der Befragten berichteten über Nacken-, 38% über Schulter- und 15% über Ellenbogen-/Unterarmbeschwerden innerhalb der vergangenen 12 Monate. Beschwerden in den Händen und Handgelenken traten bei 21% der Befragten auf. Insgesamt berichteten Frauen häufiger über Nacken- und Schulterbeschwerden als Männer. Bei einer täglichen Bildschirmarbeit von über 6 Stunden pro Tag war die Häufigkeit von Nackenbeschwerden signifikant erhöht. Schlüsselwörter: Bildschirmarbeit, Beschwerden der oberen Extremitäten, Prävalenz, Nordischer Fragebogen
Symptoms of the upper extremities and the neck among employees in office workplaces
Einleitung
In Europa wird zunehmend über Beeinträchtigungen der Gesundheit und des Wohlbefindens von Arbeitnehmern durch arbeitsbezogene Erkrankungen der oberen Extremitäten berichtet13. Über das Ausmaß und die Ätiologie des Problems, die Arbeitsbedingtheit und die Risikofaktoren für die Entstehung dieser Beschwerden, insbesondere bei Bürotätigkeiten, wird kontrovers diskutiert. Repetitive Tätigkeiten können wesentlich zu körperlichen Beschwerden beitragen. So beschreibt Sorgatz4 ein aufgrund von Beobachtungen und Diagnosen abgeleitetes neuroplastisches RSI-Modell (RSI = repetitive strain injuries). Danach bewirken hochfrequente Repetitivbewegungen zunehmend Mikroläsionen, die in betroffenen muskuloskelettalen Strukturen kumulieren und zu bewegungstypischen Schmerzen führen. Es wird diskutiert, dass Arbeiten am Bildschirm (Tastatureingabe, Mausbenutzung) Beschwerden und Erkrankungen in den oberen Extremitäten induzieren können. Der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion der Thematik Arbeiten am Bildschirm kommt eine hohe Bedeutung zu, denn nach Berechnungen im Mikrozensus5 war für etwa 59% der 35,3 Millionen Erwerbstätigen in Deutschland (ca. 21 Millionen Personen) Bildschirmarbeit wesentlicher Teil ihrer beruflichen Tätigkeit. Ziel dieses Projektes war es, die gegenwärtige Bedeutung von arbeitsbezogenen Beschwerden der oberen Extremitäten sowie der Schulter-Nacken-Region bei Beschäftigen an Bildschirmarbeitsplätzen im Rahmen einer Querschnittsuntersuchung abzuschätzen.
Methoden
In vier Werken eines Chemiekonzerns in Nordrhein-Westfalen wurden 1.123 Mitarbeiter an ihren Bildschirmarbeitsplätzen aufgesucht und die Arbeitsplatzgestaltung mittels einer standardisierten Kurz-Checkliste (in Anlehnung an den Bildschirmarbeitsplatzfragebogen BiFra6) erfasst. Betrachtet wurden alle Arbeitsplätze aus dem Bürobereich und aus den Bereichen Labor und Produktion/Lager, an denen Mitarbeiter mindestens eine Stunde am Tag mit Bildschirmarbeit verbringen. An allen Arbeitsplätzen wurde den Mitarbeitern ein standardisierter Mitarbeiterfragebogen vorgelegt. Der Mitarbeiterfragebogen greift Inhalte des Nordischen Fragebogens von Kuorinka7 sowie Teilaspekte des Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ) von Kristensen8 auf und ergänzt diese um spezifische Aspekte zu oberen Extremitäten sowie Fragen zu Arbeiten an Bildschirmgeräten. Genutzt wurden in dieser Studie die deutschen Fassungen der Erhebungsinstrumente wie sie für den Nordischen Fragebogen in Caffier et al.9 und für den COPSOQ in Nübling et al.10 abgebildet sind.
Zielparameter der Befragung war die Bestimmung verschiedener Periodenprävalenzen (p) für Muskel-Skelett-Beschwerden im Bereich der oberen Extremitäten:
· 12-Monatsprävalenz pjahr
· Wochenprävalenz pwoche
Beide Periodenprävalenzen sind Schätzer des Anteils an Personen mit Beschwerden (b) in der jeweiligen Gelenkregion im jeweiligen Zeitraum zur Gesamtzahl der befragten Probanden (n):
Der Standardfehler des Populationsanteils (s) ist abhängig vom Populationsanteil der Personen mit Beschwerden (b) selbst und der Gesamtzahl der untersuchten Personen (n)
Das 95%-Konfidenzintervall (Vertrauensbereich) beschreibt den Bereich, in dem der wahre Wert (hier der Prozentsatz) eines Parameters (hier Beschwerdehäufigkeit) mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% liegt. Das Konfidenzintervall für die Periodenprävalenzen (p) wurde in folgender Weise abgeschätzt11.
Die Ermittlung von Prädiktoren des Auftretens von Beschwerden im Muskel-Skelett-Systems wurde über logistische Regressionsanalysen und die Berechnung von Odds-Ratios unter Verwendung des Statistikprogramms SPSS 12 durchgeführt12,13. Berechnet wurden die Odds Ratio (OR) mit dem dazugehörigen 95%-Konfidenzintervall und das Signifikanzniveau. Mit dem Odds Ratio wird das Verhältnis von zwei oder mehr Gruppen beschrieben, um damit die Größe eines Unterschiedes zu beschreiben. Eine Gruppe wird als Basiskategorie gewählt und ist definitionsgemäß immer 1. Werte ungleich 1 bedeuten einen signifikanten Unterschied, wenn das 95%-Konfidenzintervall die 1 nicht mit einschließt.
Beschwerden im Bereich des Nackens und der oberen Extremitäten sind laut Literatur mit einer Vielzahl von Einflussfaktoren assoziiert1,1417. Auf Grundlage der erhobenen Daten wurden multivariate Analysen für das Auftreten von Beschwerden in den einzelnen Körperregionen durchgeführt. Der Zusammenhang zwischen persönlichen, psychosozialen, Arbeitsplatz- und Gestaltungsfaktoren einerseits und Beschwerden andererseits wurden für die vier Bereiche Nackenbeschwerden, Schulterbeschwerden, Ellenbogen- / Unterarmbeschwerden und Hand-/Handgelenksbeschwerden mittels logistischer Regressionsverfahren berechnet.
1.065 Mitarbeiter beteiligten sich an der Befragung (Teilnahmequote: 95%). Das Durchschnittsalter der Befragten betrug etwa 40 Jahre, der Frauenanteil betrug 36 %. Die Anzahl der Beschäftigen insgesamt und in den beiden Geschlechtern war für das Alter normalverteilt. Mit durchschnittlich 12 Jahren übten dabei eine Vielzahl von Beschäftigten ihre derzeitige Tätigkeit bereits sehr lange, teilweise deutlich über 20 Jahren aus. Von den 1.065 Beschäftigten, die an dieser Studie teilgenommen haben, arbeiten 803 Beschäftigte an reinen Büroarbeitsplätzen, 159 Beschäftigte in Laboren und 82 Beschäftigte an Arbeitsplätzen in den Bereichen Lager und Produktion. Die unter Sonstiges aufgelisteten 16 Arbeitsplätze waren den vier Gruppen nicht sinnvoll zuzuordnen (z.B. Pförtner), vgl. Tabelle 1.
Wie Abbildung 1 zeigt, sind die Anteile der täglichen Bildschirmarbeit sehr unterschiedlich ausgeprägt. Im Bürobereich fällt erwartungsgemäß der größte Teil der Arbeitszeit auf Bildschirmarbeit (ca. 5 Stunden Bildschirmarbeit bezogen auf einen 8 Stunden Arbeitstag). Für die Bereiche Labor und Produktion/Lager sind es etwa 3,5 Stunden pro Tag, wobei in den Produktions- und Lagerbereichen eher Überwachungstätigkeiten im Vordergrund stehen.
Häufigkeiten von körperlichen Beschwerden bei Bildschirmarbeit
Beschäftigte an reinen Büroarbeitsplätzen (N=803) wurden mit Beschäftigten verglichen, die noch andere Tätigkeiten (z.B. in der Produktions- oder Lagerarbeiten) ausführten (N=262). Die Häufigkeit des Auftretens von Beschwerden in den oberen Extremitäten bzw. dem Nackenbereich unterschied sich zwischen diesen beiden Gruppen nicht. In Abbildung 2 ist die 12-Monats-Prävalenz für Beschwerden, zusammen mit dem 95%-Konfidenzintervall angegeben.
Den Zusammenhang zwischen der täglichen Bildschirmarbeit auf die Beschwerdeprävalenzen in den vier diskutierten Körperregionen zeigt Abbildung 3. Beschäftigte mit einer täglichen Bildschirmarbeit (Dateneingabe und Schreibarbeiten) von mehr als 6 Stunden, berichteten signifikant häufiger über Nackenbeschwerden als Beschäftigte, die weniger als 2 Stunden pro Tag am Bildschirm arbeiteten (p<.001, Chi2). Die Prävalenz von Schulter, Ellenbogen-/Unterarm- und Hand-/Handgelenksbeschwerden stieg teilweise ebenfalls mit zunehmender Dauer der Bildschirmtätigkeit an, jedoch ließen sich hier keine signifikanten Effekte nachweisen. Wesentliche Merkmale mit Unterschieden in der Beschwerdehäufigkeit waren zudem das Alter der Befragten und das Geschlecht. Frauen berichteten signifikant häufiger über Nacken- und Schulterbeschwerden (jeweils p<.001, Chi2) als Männer, vgl. Abbildung 4. Prädiktoren von körperlichen Beschwerden bei Bildschirmarbeit
Beschwerden im Bereich des Nackens und der oberen Extremitäten können mit einer Vielzahl von Faktoren im Zusammenhang stehen. Daher wurde auch in dieser Untersuchung eine gesamtheitliche Betrachtung vorgenommen. Auf Grundlage der Angaben aus dem Mitarbeiterfragebogen und der Checkliste wurden Modelle für das Auftreten von Beschwerden in den einzelnen Körperregionen abgeleitet. Der Einfluss von persönlichen, psychosozialen, Arbeitsplatz- und Gestaltungsfaktoren wurden jeweils für die vier Bereiche Nackenbeschwerden, Schulterbeschwerden, Ellenbogen- / Unterarmbeschwerden und Hand-/Handgelenksbeschwerden mittels logistischer Regressionsverfahren berechnet (Abbildung 5).
Zusammenfassung und Diskussion
Das in dieser Studie eingesetzte Methodeninventar hat sich als geeignet gezeigt, die Beschwerdesituation der Beschäftigten eines Großbetriebes zu reflektieren. Der hier entstandene Datensatz ist geeignet, als Referenz für weitere Studien mit vergleichbarer Fragestellung, aber auch für andere Betriebe zu dienen, die mit diesem Methodeninventar ihren eigenen Betrieb abbilden möchten. Körperliche Beschwerden der Mitarbeiter können so eingeordnet und Schwerpunkte für Gestaltungsansätze definiert werden.
Die hier ermittelten 12-Monats-Beschwerdeprävalenzen wiesen in der Nacken- (55%) und der Schulterregion (38%) die deutlichsten Ausprägungen auf. Im Vergleich hierzu zeigte der Bereich der Hände und Handgelenke sowie der Ellenbogen und Unterarme mit Werten von 21% bzw. 15% deutlich geringere Ausprägungen. Nacken- und Schulterbeschwerden waren bei Frauen signifikant häufiger, Schulterbeschwerden zeigten eine leichte Altersabhängigkeit bei Männern. Die Dauer der Bildschirmarbeit korrelierte mit Nackenbeschwerden. Die Möglichkeit, die Bildschirmtätigkeit für andere Tätigkeiten zu unterbrechen, kann sich schützend auf das Auftreten von Nacken- sowie Hand-/Handgelenksbeschwerden auswirken. Die Gestaltung des Arbeitsalltages mit Abwechslung der Tätigkeiten erscheint somit sinnvoll. Eine sinnvolle Gestaltungsmöglichkeit könnte hier z.B. sein, Kaffeemaschinen und Drucker außerhalb des Büros zu positionieren. Somit müsste der Mitarbeiter häufiger aufstehen und sich bewegen, wodurch sich das über längere Zeiträume statische Sitzen reduzieren würde. Auch wenn in der Risikobetrachtung keine rechnerischen Effekte für die Bedeutung der Arbeitsplatzgestaltungsaspekte (höhenverstellbarer Tisch, Stuhl, Beleuchtung, Aufstellung der Arbeitsmittel usw.) gefunden werden konnten, so sollte der wirbelsäulen- und bedienfreundliche Arbeitsplatz eine wichtige präventive Maßnahme sein. Ergänzend dazu könnte das Angebot physiotherapeuthischer Maßnahmen dem Auftreten bzw. Verschlimmern von Beschwerden entgegenwirken. Die Arbeitszufriedenheit der Beschäftigten zeigt ebenfalls eine Korrelation zu körperlichen Beschwerden. Mitarbeitermotivation und die Einbindung der Mitarbeiter in Entscheidungsprozesse sind von Vorgesetzten beeinflussbare Maßnahmen, welche die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter erhöhen und somit nicht nur physischen Beschwerden positiv entgegenwirken können.
Weitere Aussagen zu verschiedenen Beschwerden und Prädiktoren sind im Forschungsbericht dokumentiert18.
· Literatur
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A Klußmann1, Hj Gebhardt1, F Liebers2, MA Rieger3 1 Institut für Arbeitsmedizin, Sicherheitstechnik und Ergonomie (ASER) e.V., Wuppertal 2 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), Berlin 3 Universität Witten/Herdecke, Witten