Zusammenfassung
Es wird über eine Umfrage bei Experten des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zu arbeitsbedingten psychischen Belastungen und deren Folgen berichtet. Die Arbeitsschutzexperten sollten Fragen zur Relevanz von psychischen Belastungen und zu Möglichkeiten zu deren Prävention aus ihrer beruflichen Erfahrung heraus beantworten. Befragt wurden vor allem betriebliche Experten, d.h. Betriebsärzte, Sicherheitsfachkräfte und Aufsichtspersonen.
Insgesamt wird den arbeitsbedingten psychischen Fehlbelastungen ein hoher Stellenwert zugewiesen. Schlechtes Führungsverhalten und Arbeitsplatzunsicherheit wurden häufig bei der Frage nach Fehlbelastungen genannt. Die Bedeutung des Führungsverhaltens zeigte sich auch bei der Frage nach bewährten Maßnahmen. Allerdings wurde auch deutlich, dass die Quellen psychischer Fehlbelastungen vielfach außerhalb des Arbeitsplatzes liegen, z. B. in der Familie oder in gesellschaftlichen Entwicklungen. Insgesamt bestätigen die Arbeitsschutzexperten die Notwendigkeit, sich mit dem Themengebiet “Psychische Belastungen und Beanspruchungen” noch stärker zu befassen.
Schlüsselwörter: psychische Belastungen “ Betriebsärzte “ Arbeitsschutzexperten
Abstract
The present article reports on a survey addressing the knowledge of health and safety experts in relation to the scale, importance and relevance to companies of mental stress at work. Safety professionals and inspection staff, company physicians, and scientific experts (particularly psychologists) were asked to complete a questionnaire based on their occupational experience of stress. They were also asked which kind of prevention measures can be applied.
In the experts” view, the topic of mental stress at work is of major importance and should be dealt with under the heading of health and safety.
Bad style of leadership and uncertainty of employment were most often named when asked for aversive stressors. The relevance of leadership became also manifest when asked for effective measures of prevention. Nevertheless, it became also evident that stressors outside the workplace, e. g. family or societal developments, are of major importance, too. On the whole, the health and safety experts themselves, approve an even stronger engagement of occupational health and safety in the topic of “mental stress and strain”.
Key words: mental stress “ company physicians “ occupational health and safety experts
Einleitung
In einer breiten ßffentlichkeit und zunehmend auch in Expertenkreisen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes werden die Zunahme psychischer Belastungen und deren möglichen negativen Auswirkungen auf die Gesundheit diskutiert. Die Belege, die in der Fachliteratur zu finden sind, sind jedoch nicht immer eindeutig. Die gefundenen Zusammenhänge zwischen psychischen (Fehl-) Belastungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen oder anderen negativen Effekten “ wie höhere Fluktuationsraten “ sind vielfach korrelativer, jedoch nicht kausaler Natur. Ein weiteres Problem besteht in der Gefahr, dass die Erforschung des Themengebiets psychischer Belastungen an den Realitäten betrieblicher Praxis vorbei geht. So bemerkt Scheuch: “[…] wir haben theoretisch/wissenschaftlich postulierte Risiken, die werden in der Praxis als solche gar nicht wahrgenommen, und wir haben in der Praxis wahrgenommene Risiken, die nach der Wissenschaft gar nicht da sein dürften”.1
Die Initiative Gesundheit und Arbeit (IGA)** hat ein Forschungsprojekt initiiert, in dem untersucht wurde, wie Arbeitsschutzexperten das Thema “Psychische Belastungen” beurteilen. Der Schwerpunkt der Befragung lag bei den betrieblichen Arbeitsschutzexperten, wie Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte, denn sie sind diejenigen, die sich vor Ort in erster Linie mit der Gesundheit der Beschäftigten und auch deren psychischen (Fehl-)Belastungen beschäftigen. Es wurde eine Umfrage durchgeführt, mit der festgestellt werden sollte, wie der Stellenwert psychischer Fehlbelastungen bei der Arbeit eingeschätzt wird und ob bzw. welche psychischen Fehlbelastungen in der betrieblichen Praxis für tatsächlich relevant gehalten werden. Die Ergebnisse bieten Ansatzpunkte für eine zielgerichtete, effektive Präventionsarbeit. Hierbei sollten auch die Wünsche der betrieblichen Experten an die Berufsgenossenschaften und an die Wissenschaft berücksichtigt werden. Durch angemessene Präventionsmaßnahmen lassen sich psychische Fehlbelastungen und die daraus resultierenden Kosten reduzieren. In dem vorliegenden Beitrag wird über einen Teil der Umfrageergebnisse berichtet.
Vorgehen und Teilnehmer
Anstelle eines klassischen Papier-Bleistift-Fragebogens wurde für diese Umfrage ein Online-Fragebogen entwickelt. So konnte ein großer Personenkreis erreicht werden. Zudem ist diese Form der Befragung ökonomisch günstiger.2 Die Betriebsärzte wurden mit Hilfe der Datenbank der Landesverbände der gewerblichen Berufsgenossenschaften http://www.lvbg.de ausgewählt. Die Datenbank enthält ermächtigte ßrzte aus dem gesamten Bundesgebiet. Es wurden all diejenigen ßrzte angeschrieben, die über mehrere Ermächtigungen verfügen. Darüber hinaus wurden Arbeitsmediziner, die als Wissenschaftler an Universitäten tätig sind, um ihre Teilnahme gebeten.
Um sicher zu stellen, dass die Begriffe “Belastung” und “Fehlbelastung” von allen Teilnehmern gleich verstanden werden, wurden die Begriffe auf der ersten Seite der Umfrage folgendermaßen erläutert: “Umgangssprachlich versteht man unter Belastungen etwas Negatives. Im Rahmen dieser Befragung verstehen wir unter psychischen Belastungen ALLE Einflüsse, die von außen auf den Menschen zukommen und psychisch auf ihn einwirken. Diese Einflüsse können sich positiv oder negativ auswirken. Wenn sie sich negativ auswirken, sprechen wir von psychischen Fehlbelastungen.” Die Definition des Begriffs “Belastung” erfolgte in ßbereinstimmung mit der Norm EN ISO 10075-1:2000 “Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung “ Allgemeines und Begriffe.”3
Die meisten Fragen waren in geschlossener Form formuliert, d. h. mit vorgegebenen Antwortalternativen, die angekreuzt werden konnten. Einige Fragen wurden offen gestellt, bei denen die befragten Personen ihre Antworten als Text eingeben konnten. Bei dem Großteil der Fragen war ein Erläuterungstext hinterlegt.
Die Arbeitsschutzexperten sollten die Fragen auf Grundlage ihrer beruflichen Erfahrung beantworten. Es ging nicht um die persönliche Betroffenheit des Einzelnen, sondern um die Erfahrungen und das Wissen derjenigen, die sich vor Ort in erster Linie mit der Gesundheit der Beschäftigten und auch deren psychischen (Fehl-)Belastungen beschäftigen.
An der Umfrage haben sich 535 Personen beteiligt. Hiervon waren 170 Betriebsärzte und 44 wissenschaftlich tätige Arbeitsmediziner. Die weiteren 321 Teilnehmer gehörten unterschiedlichen Berufsgruppen an, z. B. der der Sicherheitsfachkräfte, Aufsichtspersonen, Psychologen oder Gesundheitsförderer von Krankenkassen. Für die vorliegende Darstellung wurden die Ergebnisse für drei Gruppen ausgewertet:
1. für Betriebsärzte
2. für Arbeitsmediziner und
3. für “Andere”, d. h. vor allem Sicherheitsfachkräfte und Aufsichtspersonen aber auch Psychologen und Gesundheitsförderer.
85,0% der Betriebsärzte gaben an, hauptberuflich als solche tätig zu sein und die restlichen 15,0% arbeiteten nebenberuflich als Betriebsarzt. Der Großteil der Betriebsärzte verfügte über mehr als 5 Jahre Berufserfahrung (87%). Auch bei den anderen Berufsgruppen beteiligten sich überwiegend berufserfahrene Personen: Bei den Arbeitsmedizinern verfügten 92,5% über mehr als 5 Jahre Erfahrung und bei den anderen Gruppen waren es 79%.
Ergebnisse
Die erste Frage bezog sich auf das Ausmaß arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen. Die Befragten sollten einschätzen, ob in der Branche, in der sie über die meiste Berufserfahrung verfügen, das Ausmaß psychischer Fehlbelastungen in den letzten fünf Jahren zugenommen oder abgenommen hat oder ob es gleich geblieben ist. Abbildung 1 zeigt die prozentuale Verteilung der Antworten für die drei ausgewerteten Gruppen. 84,5% der Betriebsärzte gaben an, dass das Ausmaß arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen innerhalb der letzten 5 Jahre zugenommen hat. Auch bei den Arbeitsmedizinern und bei den anderen Berufsgruppen urteilte die Mehrheit, dass das Ausmaß zugenommen habe (77,5% bzw. 80,3%). Zwischen 0% und 2,3% gaben an, dass das Ausmaß abgenommen habe und zwischen 13,5% (Betriebsarzt) und 22,5% (Arbeitsmediziner) schätzten aufgrund ihrer Erfahrung, dass das Ausmaß gleich geblieben ist. Die Betriebsärzte schätzen also noch etwas häufiger als die weiteren Berufsgruppen, dass das Ausmaß psychischer Fehlbelastungen zugenommen hat.
Nach der Beurteilung der Veränderung des Ausmaßes arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen wurden die Teilnehmer gebeten, die Verteilung der Fehlbelastungen bei der Arbeit einzuschätzen. Es wurde davon ausgegangen, dass sich psychische Fehlbelastungen, körperliche Fehlbelastungen und Fehlbelastungen durch die Arbeitsumgebung (z. B. Klima, Beleuchtung) zu 100% summieren. Die Verteilung der 100% auf die drei Bereiche sollte zum einen für die heutige Zeit und zum anderen für die Zeit vor 5 Jahren geschätzt werden. Abbildung 2 zeigt die geschätzte Verteilung heute. Alle Berufsgruppen weisen den psychischen Fehlbelastungen mit 40,8% (Arbeitsmediziner) bis 45,0% (Andere) den höchsten Stellenwert zu, gefolgt von körperlichen Fehlbelastungen (33,6% Betriebsarzt, 33,6% Arbeitsmediziner, 27,6% Andere). Der Anteil körperlicher Fehlbelastungen wird von den anderen Berufsgruppen etwas niedriger eingeschätzt als von den Medizinern. Den Fehlbelastungen durch die Arbeitsumgebung wird der geringste prozentuale Anteil zugewiesen (zwischen 23,8% und 25,6%).
Die Einschätzung der Verteilung vor 5 Jahren ist bei allen Berufsgruppen ähnlich und weicht von der Einschätzung heutzutage ab (Abbildung 3). Vor 5 Jahren wurde der größte Anteil den körperlichen Fehlbelastungen zugewiesen (34,9% Betriebsärzte, 33,5% Arbeitsmediziner, 33,1% Andere), gefolgt von den psychischen Fehlbelastungen, denen deutlich weniger Bedeutung als heute zugemessen wurde (29,7% Betriebsärzte, 32,6% Arbeitsmediziner, 28,1% Andere). Der Anteil der umgebungsbedingten Fehlbelastungen wird von den drei Gruppen ähnlich und etwas höher als heutzutage eingeschätzt (zwischen 25,1% und 28,1%).
Nach den Fragen zum Ausmaß psychischer Fehlbelastungen wurden die Teilnehmer gebeten, die Bedeutsamkeit unterschiedlicher Merkmale zu beurteilen, die zu psychischen Fehlbelastungen werden können. Es wurden 25 Merkmale vorgegeben, die einem der folgenden Bereiche zugeordnet wurden: “Arbeitsinhalt”, “Arbeitsorganisation”, “Arbeitsumgebung”, “soziale Beziehungen bei der Arbeit”, “betriebliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen” und “private Einflüsse”. Die Teilnehmer wurden gebeten, die ihrer beruflichen Erfahrung nach relevantesten, d.h. häufigsten und/oder schwerwiegendsten Belastungsarten, die zu psychischen Fehlbelastungen werden können, anzukreuzen. Die folgenden drei Abbildungen zeigen für die Bereiche “Soziale Beziehungen bei der Arbeit” (Abbildung 4), “Betriebliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen” (Abbildung 5) und “Private Einflüsse” (Abbildung 6) die am häufigsten gewählten Merkmale. Es zeigt sich, dass Konflikte und Spannungen und vor allem schlechtes Führungsverhalten von allen Berufsgruppen als bedeutsam eingeschätzt werden. Die Mediziner halten Konflikte und Spannungen für etwas weniger relevant als die anderen Berufsgruppen (49,4% und 50% versus 58,4%). Schlechtes Führungsverhalten halten die Mediziner hingegen für relevanter als die anderen Berufsgruppen (75,3% und 79,6% versus 70,9%).
Die eingeschätzte Relevanz hinsichtlich der betrieblichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ist ebenfalls bei den drei ausgewerteten Gruppen ähnlich. An erster Stelle stehen Arbeitsplatzunsicherheit sowie schlechtes Betriebsklima, gefolgt von fehlenden beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten und veränderten Arbeitsbedingungen (z. B. neue Produkte, Technologien, flexible Arbeitszeiten). Der Arbeitsplatzunsicherheit wird von den Betriebsärzten (69,4%) die größte Bedeutung im Vergleich zu den anderen Gruppen (63,6% und 60,5%) zugemessen. Das schlechte Betriebsklima wird von den Arbeitsmedizinern (63,6%) etwas häufiger als relevant eingeschätzt (57,1% und 54,5% bei Betriebsärzten und Anderen). Fehlende berufliche Entwicklungsmöglichkeiten werden von den ßrzten ähnlich eingeschätzt (34,7% und 36,4%) und etwas geringer von den anderen Berufsgruppen (29,3%). Die veränderten Arbeitsbedingungen halten die Arbeitsmediziner (25,0%) seltener für relevant als die anderen Gruppen (35,9% und 32,6%).
Auch private Einflüsse und hier vor allem fehlende bzw. gestörte soziale Beziehungen werden von den Teilnehmern als bedeutsam eingeschätzt (60,6% Betriebsärzte, 63,6% Arbeitsmediziner, 58,2% Andere). Aber auch finanzielle sowie gesundheitliche Probleme wurden von einer Reihe von Befragten als mögliche Fehlbelastung angesehen (46,5% bzw. 30,0% Betriebsärzte, 31,8% bzw. 18,2% Arbeitsmediziner, 40,4% bzw. 35,2% andere Berufsgruppen). Hausarbeit und Kindererziehung wurde ebenfalls von knapp einem Drittel der Befragten als relevant eingeschätzt (31,2% Betriebsärzte, 22,7% Arbeitsmediziner, 30,0% Andere).
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen (z. B. Arbeitsplatzunsicherheit) und private Einflüsse (z. B. fehlende bzw. gestörte soziale Beziehungen) werden also hinsichtlich psychischer Fehlbelastungen neben innerbetrieblichen Merkmalen wie beispielsweise das Führungsverhalten für bedeutsam gehalten.
Da psychische Fehlbelastungen nicht nur bei der Arbeit auftreten, sollte untersucht werden, welche Bedeutung mögliche Quellen psychischer Fehlbelastungen nach Einschätzung der Arbeitsschutzexperten haben. Die befragten Personen wurden gebeten, ihre Antworten so in Prozent anzugeben, dass sich für die aufgeführten Quellen (Arbeitsplatz, gesellschaftliche Entwicklungen, Familie und Freizeit) insgesamt 100% ergeben. Bei allen drei Gruppen wird dem Arbeitsplatz der größte prozentuale Anteil zugewiesen, wobei die Arbeitsmediziner dem Arbeitsplatz etwas mehr Bedeutung zuwiesen als die anderen beiden Gruppen (40,0% gegenüber 37,6% bzw. 34,7%, siehe Abbildung 7). Den gesellschaftlichen Entwicklungen (zwischen 21,4% und 24,5%) und der Familie (zwischen 20,9% und 22,8%) wurde in etwa der gleiche Stellenwert als mögliche Quelle psychischer Fehlbelastungen zugewiesen. Der Freizeit wurde die geringste Bedeutung zugemessen, aber immerhin noch zwischen 9,3% und 9,7%. Die nicht-arbeitsplatzbezogenen Quellen “ gesellschaftliche Entwicklungen, Familie und Freizeit “ können insgesamt also auch eine bedeutsame Quelle psychischer Fehlbelastungen darstellen. Diese Einschätzung der Arbeitsschutzexperten zeigt einmal mehr, dass nicht nur arbeitsbedingte psychische Fehlbelastungen zu reduzieren sind, sondern die Reduzierung nicht-arbeitsbedingter Fehlbelastungen ebenso wichtig ist.
Neben der Einschätzung der Bedeutsamkeit psychischer Fehlbelastungen wurden die Teilnehmer gebeten, ihrer Erfahrung nach auftretende Folgen psychischer Belastungen zu benennen. Da psychische Belastungen sich sowohl positiv als auch negativ auswirken können, sollten beide Arten von Folgen benannt werden getrennt nach den Bereichen “Körperliche Folgen”, “Psychische Folgen”, “Verhaltensbezogene Folgen” sowie “Betriebliche Folgen”. Insgesamt gab es bei der Frage nach positiven Folgen 2.376 Nennungen, die sich auf die vier Kategorien verteilen (siehe Abbildung 8).
Mit Ausnahme der Nennung betrieblicher Folgen von den Arbeitsmedizinern war die Verteilung auf die Kategorien in etwa gleich und bei allen drei ausgewerteten Gruppen ähnlich. Bei den körperlichen Folgen wurden am häufigsten Gesundheit und Wohlbefinden allgemein sowie Aktivität und Fitness genannt. Bei den psychischen Folgen wurden Zufriedenheit, Glück, Erfolg sowie verbessertes Selbstwertgefühl häufig genannt. Verhaltensbezogen wurden oft verbesserte Teamfähigkeit und Kommunikation angegeben und bei den betrieblichen Folgen Leistungssteigerung sowie Identifikation mit der Aufgabe.
Abbildung 9 zeigt die Verteilung der genannten negativen Folgen auf die 4 Kategorien. Hier gab es 3.408 Nennungen, also knapp 1,5 mal so viele wie bei der Frage nach den positiven Folgen. Mit Ausnahme der Nennung betrieblicher Folgen von den Arbeitsmedizinern war auch hier die Verteilung auf die Kategorien in etwa gleich und bei den drei ausgewerteten Gruppen ähnlich. Bei den negativen körperlichen Folgen wurden vor allem Krankheiten und Somatisierungen allgemein, gefolgt von Herz-Kreislauf Erkrankungen, genannt. Bei den psychischen Folgen entfielen die meisten Nennungen auf Depression bzw. Demotivation und Unzufriedenheit. Als verhaltensbezogene Folgen wurden am häufigsten Rückzug und Isolation bzw. Resignation und Desinteresse genannt. Als Folgen auf betrieblicher Ebene wurden vor allem Leistungsabfall bzw. Produktivitätsrückgang sowie schlechtes Arbeits- bzw. Betriebsklima angegeben.
Die Teilnehmer wurden in offener Form gefragt, welche Maßnahmen sich ihrer Einschätzung nach zur Reduzierung arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen bewährt haben. Es sollten sowohl organisationsbezogene als auch personenbezogene Maßnahmen genannt werden. Auf Organisationsebene gab es insgesamt 1.048 Nennungen und auf Personenebene 573 Nennungen, also lediglich halb so viele. Abbildung 10 zeigt die Verteilung der Nennungen für die in beiden Bereichen am häufigsten genannten Maßnahmen. Ein Großteil der Nennungen beschreibt eher angemessene Verhaltensweisen und weniger konkrete Maßnahmen. Auf der Organisationsebene am häufigsten und von allen Befragtengruppen in etwa gleich häufig wurde ein partizipativer Führungsstil genannt (zwischen 47,4% und 48,8%) gefolgt von Transparenz bzw. eine klare Definition von Aufgaben und Kompetenzen (29,1% Betriebsärzte, 21% Arbeitsmediziner, 26,3% Andere).
Auf der Personenebene wurde von den Betriebsärzten und von den anderen Berufsgruppen am häufigsten die Förderung der Kommunikation bzw. der sozialen Kompetenz genannt (52,8% und 47,0%), während bei den Arbeitsmediziner weniger Nennungen auf diese Maßnahme entfielen (28,6%). Von den Arbeitsmedizinern hingegen häufig genannt wurden Stressbewältigungskompetenzen (71,4%), worauf bei den Betriebsärzten (34,3%) und den anderen Berufsgruppen (44,0%) weniger Nennungen entfielen.
Als nicht bewährte Maßnahmen bzw. als unangemessenes Verhalten wurden von den Befragten entsprechend ein autoritärer Führungsstil sowie eine schlechte Kommunikation aber auch Sanktionen und Druck sowie Resignation und Rückzug (Isolation) genannt.
Die Teilnehmer wurden auch gebeten, ihre Wünsche an die Berufsgenossenschaften und an die Wissenschaft zu nennen. Mit Abstand am häufigsten wurde “ bezogen auf die Berufsgenossenschaften “ von allen Berufsgruppen der Wunsch nach Fortbildungsangeboten sowie Aufklärung und Beratung genannt, gefolgt von dem Wunsch nach Unterstützung bei der Umsetzung. Die Wünsche an die Wissenschaft betrafen vor allem die Erforschung von Kausalzusammenhängen sowie die Entwicklung praktikabler Lösungsansätze.
Diskussion
Mit Hilfe einer Online-Umfrage wurde untersucht, wie Arbeitsschutzexperten das Ausmaß, den Stellenwert und die betriebliche Relevanz psychischer Belastungen bei der Arbeit beurteilen. Die Daten wurden getrennt für drei Gruppen ausgewertet (Betriebsärzte, wissenschaftlich tätige Arbeitsmediziner und “Andere”, d. h. vor allem Sicherheitsfachkräfte und Aufsichtspersonen, aber auch Psychologen und Gesundheitsförderer). Die Aussagen basierten vor allem auf der beruflichen Erfahrung und auf Erfahrungen im privaten Umfeld. Es wurde also kein objektives Messverfahren eingesetzt und es können keine Aussagen über die tatsächlichen betrieblichen Verhältnisse getroffen werden.
Die Ergebnisse sind wichtig, um eine Einschätzung des Themas von den Arbeitsschutzexperten “vor Ort” zu erhalten, da sie diejenigen sind, die sich täglich mit den (Fehl-) Belastungen der Mitarbeiter beschäftigen. So kann gewährleistet werden, dass sich Sozialversicherungen wie Unfallversicherung und Krankenkasse sowie Wissenschaftler auch mit den Risiken beschäftigen, die im betrieblichen Alltag vorherrschend sind.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass psychischen Fehlbelastungen ein hoher Stellenwert von allen Arbeitsschutzexperten zugewiesen wird. Das Ausmaß arbeitsbedingter psychischer Fehlbelastungen hat nach Einschätzung der großen Mehrheit der Experten in den letzten Jahren zugenommen. Während noch vor fünf Jahren den körperlichen Fehlbelastungen die größte Bedeutung zugewiesen wurde, sind es inzwischen die psychischen Fehlbelastungen. Allerdings ist nicht nur der Arbeitsplatz eine bedeutsame Quelle von psychischen Fehlbelastungen. Auch aus gesellschaftlichen Entwicklungen, der Familie und selbst der Freizeit können psychische Fehlbelastungen entstehen. Die Bedeutung der Ausgewogenheit von Beruf und Familie, von Arbeit und Freizeit wird inzwischen unter dem Stichwort “Work-Life Balance” diskutiert.4
Das Führungsverhalten ist nach Einschätzung der Experten ebenfalls sehr bedeutsam für das Thema “Psychische Belastungen”. Zum einen wird schlechtes Führungsverhalten von vielen Befragten als relevante Fehlbelastung eingeschätzt und zum anderen wird partizipatives Führungsverhalten häufig als geeignete Maßnahme zur Reduzierung psychischer Fehlbelastungen angesehen. Diese Beurteilung entspricht Forschungsergebnissen, die gezeigt haben, dass mitarbeiter- und mitwirkungsorientierte Führungsstile belastungs- und fehlzeitenreduzierend wirken.5
Es wird aber auch deutlich, dass psychische Belastungen auch positive Folgen nach sich ziehen können und dies sowohl auf körperlicher als auch auf psychischer, verhaltensbezogener und betrieblicher Ebene. Das Ziel ist also nicht die Reduzierung psychischer Belastungen per se, sondern ihre Optimierung durch die Reduktion psychischer Fehlbelastungen und die Nutzung, Gestaltung und Entwicklung anderer Belastungen (vgl. 1).
Zur Reduzierung psychischer Fehlbelastungen wird neben einem “partizipativen Führungsstil” “Transparenz bzw. die klare Definition von Aufgaben und Kompetenzen” als angemessen angesehen. Auch die “Förderung der Kommunikation bzw. der sozialen Kompetenz” und die “Förderung von Stressbewältigungskompetenzen” kann helfen, Fehlbelastungen zu reduzieren.
Von den Berufsgenossenschaften wünschen sich die befragten Arbeitsschutzexperten vor allem Fortbildungsangebote, Aufklärung und Beratung sowie Unterstützung bei der Umsetzung von Maßnahmen. In diesen Bereichen gibt es bereits Angebote der Berufsgenossenschaften, die weiterhin angeboten und auch intensiviert werden sollten. Der Wunsch nach mehr Wissen und nach Unterstützung wird auch deutlich bei den Wünschen an die Wissenschaft.
Bei der vorliegenden Auswertung nach Betriebsärzten, Arbeitsmedizinern und anderen wichen die Arbeitsmediziner an einigen Stellen in ihrem Urteil von den anderen beiden Gruppen ab. Dies zeigt, dass einige Aspekte von betrieblichen Akteuren etwas anders beurteilt werden als von Wissenschaftlern. Insgesamt zeigt sich aber, dass unterschiedliche Berufsgruppen im Wesentlichen gleich urteilen und es nur wenige Unterschiede zwischen den Gruppen gibt.
Literatur
1 Scheuch K. Stress am Arbeitsplatz “ ein Thema für den Arbeits- und Gesundheitsschutz? Zentralblatt für Arbeitsmedizin 2002; 52: 127-131.
2 Zerr K. Online-Marktforschung “ Erscheinungsformen und Nutzenpotentiale. In Theobald A, Dreyer M, Starsetzki T (Hrsg.). Online-Marktforschung. Theoretische Grundlagen und praktische Erfahrung. Wiesbaden: Gabler 2001; 7-26.
3 EN ISO 10075-1:2000 Ergonomische Grundlagen bezüglich psychischer Arbeitsbelastung “ Allgemeines und Begriffe. Beuth.
4 Kastner M. Work Life Balance “ ein Konzept für Gesundheitskompetenz. Bundesarbeitsblatt 2002; 9: 12-16.
5 Stadler P, Spieß E. Mitarbeiterorientiertes Führen und soziale Unterstützung am Arbeitsplatz. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dortmund 2002.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. Hiltraut Paridon
Berufsgenossenschaftliches Institut
Arbeit und Gesundheit
Königsbrücker Landstraße 2
01109 Dresden
hiltraut.paridon@hvbg.de
Tel.: 0351/457-1723
Fax: 0351/457-1715
*) Berufsgenossenschaftliches Institut Arbeit und Gesundheit, Dr. Hiltraut Paridon, Dr. Dirk Windemuth. Dipl-Soz. Nicola Schmidt
**) Die Initiative Gesundheit und Arbeit ist eine Kooperation des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften und des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen zur Neu- und Weiterentwicklung gemeinsamer Präventions- und Interventionsansätze.
H. Paridon, D. Windemuth, N. Schmidt