Als wir uns im Herausgeberkreis des Fehlzeiten-Reports vor einem Jahr erstmals über das Schwerpunktthema der 2015er Ausgabe ausgetauscht hatten, wurden wir uns sehr schnell einig, dass der Fokus auf dem zielgruppenspezifischen Gesundheitsmanagement liegen sollte. Damit sollten die Besonderheiten von schwer erreichbaren Zielgruppen fokussiert werden. Die Leitfragen lautet dabei: Welche Instrumentarien können helfen, die gesetzten Ziele auch bei spezifischen Beschäftigtengruppen zu erreichen und wie kann die Qualität der Maßnahmen gewährleistet werden?
Arbeitswelt im Wandel
Die Arbeitswelt befindet sich kontinuierlich im Wandel, der für die Unternehmen und die Beschäftigten zunehmend spürbarer wird. Den Folgen der demografischen Entwicklung, der Globalisierung sowie des technologischen Fortschritts kann sich niemand mehr entziehen im Gegenteil, es bedarf passender Antworten der Unternehmen, wenn sie ihre Wettbewerbsfähigkeit zukünftig nicht gefährden wollen. Die Gesundheit der Beschäftigten spielt dabei eine bedeutsame Rolle. Die Vielzahl von Praxisbeispielen, die regelmäßig auch im Fehlzeiten-Report publiziert werden, macht deutlich: Von den Investitionen in ein Betriebliches Gesundheitsmanagement profitieren nicht nur die Beschäftigten, sondern es hilft auch den Unternehmen Fehlzeiten zu senken, die Mitarbeitermotivation zu erhöhen und Fachkräfte dauerhaft an sich zu binden.
Zielgruppenspezifische Angebote notwendig
Diese Angebote müssen von den Unternehmen zielgruppengerecht gestaltet werden, damit die Bedürfnisse von spezifischen Beschäftigtengruppen berücksichtigt werden können. Die Anzahl der Branchen und Zielgruppen, die individuelle gesundheitsfördernde Lösungen brauchen, ist groß, weil sie mental, räumlich, zeitlich oder sprachlich schwer erreichbar sind und daher jenseits von Standardantworten liegen. Die Bandbreite reicht von Klein- und Kleinstunternehmen mit nur wenigen Mitarbeitern wie beispielsweise in der Handwerksbranche über mobile Berufsgruppen wie Fernfahrer oder Außendienstmitarbeiter. Besonders aber auch Gruppen wie Freelancer, Migranten oder Beschäftigte in der Schichtarbeit bis hin zu Strafgefangenen oder Studenten um nur einige ausgewählte zu nennen sind betroffen. Sie alle haben eins gemein: Hier greifen die klassischen Methoden des Betrieblichen Gesundheitsmanagements zu kurz, es braucht stattdessen zielgruppenspezifische maßgeschneiderte Angebote.
Zielgruppe Auszubildende
Ende 2014 gab es knapp 1,4 Millionen Auszubildende in Deutschland; ca. 37.000 Ausbildungsstellen blieben unbesetzt. Auch die aktuellen Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit zeigen, dass zum Ausbildungsstart am 1. September 2015 ungefähr ein Viertel der Ausbildungsplätze nicht besetzt werden konnte. Diese heutige Herausforderung wird sich angesichts der demografischen Entwicklung für die Unternehmen voraussichtlich zukünftig noch verschärfen. Die erste bundesweit repräsentative Befragung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) zum Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten von Auszubildenden soll Hinweise geben, welche spezifischen Bedürfnisse diese Zielgruppe hat.
Zahlreiche körperliche und psychische Bschwerden
Es wäre zu erwarten, dass jüngere Beschäftigte einen sehr guten Gesundheitszustand an den Tag legen müssten. Mehr als die Hälfte der Auszubildenden (56,5 Prozent) berichten jedoch über häufige körperliche Beschwerden und 46,1 Prozent auch über psychische Beschwerden. So klagt jeder vierte Auszubildende über häufige Kopfschmerzen (25,7 Prozent), mehr als jeder fünfte leidet häufig an Rückenschmerzen (21,1 Prozent) oder Verspannungen (22,1 Prozent). Als häufig auftretende psychische Beschwerden wurden vor allem Müdigkeit/Mattigkeit/Erschöpfung (36,0 Prozent), Lustlosigkeit/ausgebrannt sein (15,1 Prozent), Reizbarkeit (10,7 Prozent) und Schlafstörungen (10,0 Prozent) genannt.
Problematisches Gesundheitsverhalten
Da das Gesundheitsverhalten einen maßgeblichen Einfluss auf den aktuellen und auch zukünftigen Gesundheitszustand hat, ist es wichtig zu wissen, ob sich Auszubildende ausreichend bewegen, gesund ernähren oder ausreichend schlafen. Wie bei jüngeren Menschen zu erwarten, zeigen sich hier teilweise Defizite in den Bereichen Bewegung, Ernährung und Schlaf sowie im Umgang mit Suchtmitteln und digitalen Medien. Ein Viertel der Auszubildenden ist kaum sportlich aktiv (26,1 Prozent). 27 Prozent der Befragten nehmen kein regelmäßiges Frühstück zu sich und 15,8 Prozent verzichten auf ein tägliches Mittagessen. Zu den gesundheitsproblematischen Essgewohnheiten zählen darüber hinaus ein hoher Konsum an Fast Food und zuckerhaltigen Lebensmitteln: 17,0 Prozent konsumieren mehrfach pro Woche Fast Food und 57,4 Prozent Süßigkeiten. Weibliche Auszubildende essen häufiger Süßigkeiten, während Männer zu einem höheren Anteil Fast-Food-Produkte zu sich nehmen. Darüber hinaus raucht mehr als jeder dritte Auszubildende und fast jeder Fünfte zeigt einen riskanten Alkoholkonsum.
Problematisch erscheint, dass mehr als ein Drittel der männlichen Auszubildenden und jede vierte weibliche Auszubildende werktags mit weniger als sieben Stunden Schlaf pro Nacht die Arbeit antreten obwohl sie in ihrer Lebensphase nach Einschätzung von Medizinern eigentlich mehr Schlaf benötigen. Dies empfindet ein Teil der Auszubildenden selbst als zu wenig: Mehr als 12 Prozent fühlen sich wochentags in Arbeit und Schule fast nie oder niemals ausgeruht und leistungsfähig.
Der wenige Schlaf kann möglicherweise auch auf den hohen Medienkonsum zurückzuführen sein. Werden Auszubildende zu ihrer privaten Nutzung von digitalen Medien befragt, zeigen sich hohe Werte. Würde man diese Angaben addieren und außer Acht lassen, dass die verschiedenen Medien (TV, Smartphone, Playstations etc.) auch parallel genutzt werden, verbringen Auszubildende insgesamt 7,5 Stunden pro Tag mit diesen digitalen Medien.
Nahezu jeder zehnte Auszubildende pflegt einen risikobehafteten Gesundheitsstil
Werden Auszubildende hinsichtlich ihrer gesundheitsbezogenen Lebensweise und ihrer individuellen Gesundheitsbeschwerden in entsprechenden Gesundheitsstilgruppen kategorisiert, zeigt sich: Mehr als die Hälfte der Auszubildenden (54,3 Prozent) lebt gesundheitsbewusst und hat kaum körperliche und psychische Beschwerden. Sie bilden die größte Gruppe der Auszubildenden.
Bei mehr als jedem fünften Auszubildenden (21,9 Prozent) erreicht das Gesundheitsverhalten dagegen einen überdurchschnittlichen Gefährdungswert. Kriterien für diesen Typ sind beispielsweise, weniger als einmal im Monat einer sportlichen Betätigung nachzugehen oder mindestens einmal die Woche übermäßig Alkohol zu trinken. Mehr als die Hälfte dieser Auszubildenden hat trotz dieser hohen gesundheitlichen Gefährdung nur wenige Gesundheitsbeschwerden (12,6 Prozent aller Auszubildenden). Bei den Auszubildenden mit risikobehaftetem Gesundheitsstil (9,3 Prozent) trifft ein ungesunder Lebensstil bereits mit körperlichen und psychischen Beschwerden zusammen.
Deutliche Auswirkungen auf Ausbildung und Schule
Es zeigt sich erwartungsgemäß, dass Auszubildende mit einem gesundheitsbewussten Lebensstil die Arbeitsbedingungen wie auch die der Belastungssituation im Betrieb insgesamt positiver wahrnehmen. So schätzen diese als gesund definierten Auszubildenden ihre Arbeitsbedingungen in nahezu allen Aspekten am positivsten ein. Die Gruppe der risikobehafteten Auszubildenden nimmt eine deutlich kritischere Bewertung vor. Von ihnen fühlen sich 14,2 Prozent nicht angemessen im Betrieb gefordert, von den gesunden Auszubildenden sagen dies nur 5,7 Prozent. Jeder Vierte (28,5 Prozent) der risikobehafteten Befragten sieht die beruflichen Entwicklungschancen pessimistisch, die gesunden Auszubildenden sind mit 12,5 Prozent optimistischer. Auch das Verhalten des Vorgesetzten bewerten beide Gruppen unterschiedlich: Während ein Fünftel der risikobehafteten Auszubildenden (20,6 Prozent) bemängelt, dass sich ihr Vorgesetzter nicht ausreichend Zeit für sie nimmt, liegt der Vergleichswert bei gesunden Auszubildenden deutlich niedriger (8,6 Prozent).
Hohe Zufriedenheit mit den Ausbildungsbetrieben
Alles in allem stellen die Auszubildenden der Gesamtsituation in ihren Betrieben ein positives Zeugnis aus: Drei Viertel der Auszubildenden (73,7 Prozent) sind zufrieden bzw. sehr zufrieden, lediglich 6,1 Prozent sind nicht zufrieden. Aber auch hier macht sich ein Unterschied zwischen den Gesundheitsstilen bemerkbar: Während mehr als jeder zehnte der risikobehafteten Auszubildenden (10,9 Prozent) mit der Arbeit im Betrieb nicht zufrieden ist, sind dies bei den gesunden Auszubildenden nur 3,3 Prozent. Es ist zu vermuten, dass eine hohe Zufriedenheit mit einem erfolgreichen Ausbildungsabschluss und einer Weiterbeschäftigung im Ausbildungsbetrieb einhergeht.
Großes Interesse an betrieblichen Gesundheitsangeboten
Die Befragung zeigt, dass die Auszubildenden gegenüber betrieblichen Gesundheitsangeboten sehr aufgeschlossen sind. Fast drei Viertel der Befragten halten Gesundheitsförderangebote des Betriebs für gut. Fast zwei Drittel von ihnen würden speziell auf Auszubildende zugeschnittene betriebliche Angebote bevorzugen. Die Ergebnisse zeigen, dass von Seiten der Auszubildenden ein hoher Bedarf an Maßnahmen zur Betrieblichen Gesundheitsförderung besteht. Für Unternehmen, die dies erkennen, bietet sich die Chance, Fehlzeiten bei Auszubildenden frühzeitig zu begegnen. Dafür sollten sie von Beginn an zielgruppengerechte gesundheitsförderliche Angebote entwickeln.
Was lernen wir daraus?
Die vorgelegte Studie zeigt, wo bei den Auszubildenden der Schuh drückt: Auch wenn ein für diese Altersgruppe zu erwartender guter Gesundheitszustand deutlich wird, weisen Auszubildende zum Teil erhebliche Defizite bei Gesundheitszustand und Gesundheitsverhalten auf. Ein Drittel der Auszubildenden berichtet über häufig auftretende körperliche und psychische Beschwerden. Gesundheitsgefährdendes Verhalten ist bei jedem fünften Auszubildenden zu beobachten. Bei beinahe jedem zehnten Befragten treten gesundheitliche Beschwerden und gesundheitsgefährdendes Verhalten gleichzeitig auf. Die Herausforderung für die noch zu entwickelnden spezifischen Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung für diese Zielgruppe: Viele Auszubildende leben im Hier und Jetzt. Eine für diese Altersgruppe typische Neugier und Offenheit tritt zutage und dazu gehören eben auch Grenzerfahrungen. Langfristige Folgen gesundheitsriskanten Verhaltens werden nur selten bedacht. Im Vordergrund von Gesundheitsfördermaßnahmen für Auszubildenden müssen somit insbesondere Lebenslust, Vitalität und Wohlbefinden stehen. Digitale Medien bieten hier zusätzliche Zugangswege, um Auszubildende zielgruppengerecht ansprechen zu können.
Die auf die speziellen Bedürfnisse der Auszubildenden abgestimmten Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung stellen auch einen Wettbewerbsfaktor für die Unternehmen dar. Mittelfristig werden in vielen Branchen und Regionen Auszubildende händeringend gesucht. Junge und gut ausgebildete Fachkräfte nützen dem Unternehmen jedoch nur, wenn sie gesund und leistungsfähig sind und es vor allem auch bleiben.
Meine Mitherausgeberin Frau Professorin Ducki wird an weiteren konkreten Beispielen deutlich machen, wie zielgruppenspezifische Präventionsangebote erfolgreich umgesetzt werden können. Wir kennen es doch auch von uns selbst: Nur ein Schuh, der passt, wird dauerhaft getragen und macht auch nicht krank.