Rubriken

Barrierefreie Arbeitsbedingungen für Menschen mit Schwerhörigkeit

Bereits jeder Vierte der 50– bis 59-Jährigen ist von einem Hördefizit betroffen. Angesichts des demografischen Wandels und der steigenden Lebensarbeitszeit werden auch in Unternehmen vermehrt schwerhörige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer anzutreffen sein. Doch in der Arbeitswelt ist Schwerhörigkeit nur selten ein Thema. Das Projekt hörkomm.de will das ändern und unterstützt bei der Gestaltung hörfreundlicher Arbeitsplätze.

Es war ein Zufall, der Bettina Kringel von der Schwerbehindertenvertretung des Online-Händlers OTTO auf die besonderen Bedürfnisse von Schwerhörigen aufmerksam machte. Zu einer Versammlung hatte sie Gebärdensprachdolmetscher für ihre gehörlosen Kollegen hinzugezogen. Diese übersetzten das gesprochene Wort in Gebärden. Nach der Veranstaltung wandte sich eine Teilnehmerin an Bettina Kringel und berichtete ihr, wie sehr auch sie, obwohl sie nicht gehörlos sei, von den Gebärdensprachdolmetschern profitierte. Trotz ihrer Hörgeräte hatte die hochgradig schwerhörige Kollegin den Wortbeiträgen auf der Sitzung also nur eingeschränkt folgen können. Eine Problematik, die der Schwerbehindertenvertreterin bis dahin nicht bewusst gewesen war und sie nun handeln ließ. Bettina Kringel initiierte regelmäßige Treffen mit ihren schwerhörigen Kolleginnen und Kollegen und holte das Thema damit aus der Tabuzone.

Doch ein solches Engagement für Beschäftigte mit Hörminderungen ist in Unternehmen noch viel zu selten vorhanden. Dabei sind Höreinschränkungen weiter verbreitet als allgemein bekannt. Nach einer Studie des Mediziners Wolfgang Sohn sind 19 Prozent der Deutschen über 14 Jahre mehr oder weniger stark hörbeeinträchtigt (vgl. Sohn 2000). Laut statistischen Berechnungen des Deutschen Schwerhörigenbundes e. V. (DSB) sind das in Zahlen rund 15 Millionen Menschen.

Bei den Ursachen für eine Schwerhörigkeit spielt auch das Alter eine Rolle. Hörschwierigkeiten treten mit zunehmendem Alter häufiger auf. Entsprechend zeigt sich beim Blick auf die Zahlen, dass unter den 50– bis 59-Jährigen bereits jeder Vierte nicht mehr gut hört. Ab 60 Jahren sind es bereits 37 % (vgl. Sohn, Jörgenshaus 2001). Die Zahlen machen deutlich, dass für Unternehmen Handlungsbedarf besteht.

Wie sich Schwerhörigkeit im Berufsleben auswirkt
Meist macht sich die Einschränkung schleichend bemerkbar. Beim Essen in der Kantine muss man häufiger nachfragen, was der Kollege eben gesagt hat, man kann der Diskussion im Meeting oder dem Vortrag auf der Tagung nicht mehr richtig folgen. Schwerhörigkeit heißt nicht nur, dass scheinbar alle leiser sprechen. Vielmehr werden bestimmte Frequenzen nicht mehr gehört und ähnlich klingende Laute nicht mehr unterschieden. Missverständnisse und Unsicherheiten in der Zusammenarbeit können die Folge sein. Wer nicht gut versteht, traut sich häufig nicht, immer wieder nachzufragen. So entstehen psychische Belastungen und Tendenzen zum sozialen Rückzug. Untersuchungen zeigen, dass Beschäftigte mit unbehandeltem leichten oder mittelschweren Hörverlust öfter unter psychischen und sozialen Problemen am Arbeitsplatz leiden (vgl. Monzani et al. 2008).

Ab einer Minderung der Hörfähigkeit um 25 dB geht die Weltgesundheitsorganisation WHO von einer geringgradigen Schwerhörigkeit aus. Ab 30 dB ist, je nach Art der Hörstörung, ein Hörgerät indiziert. Doch wie schon das oben erwähnte Beispiel der OTTO-Mitarbeiterin gezeigt hat, reichen Hörgeräte allein nicht aus. Schwerhörige Berufstätige treffen ständig auf Situationen, in denen das Verstehen noch zusätzlich erschwert wird. Etwa weil Büroräume mit vielen glatten Flächen ausgestattet sind, von denen der Schall reflektiert und nicht absorbiert wird. So entsteht ein Nachhall, der Sprache überlagert und verfremdet. Auch Geräuschkulissen, etwa aus Stimmengewirr oder Maschinenlärm, sowie ein vom Zuhörer weit entfernter Redner in Konferenzen oder Vorträgen erschweren das Verstehen trotz Hörgerät. Betroffene, deren Richtungshören nicht mehr funktioniert, können bei schnellen Sprecherwechseln den Wortbeiträgen kaum noch folgen.

Das Projekt hörkomm.de hilft Hör-Barrieren abzubauen
Mit dem Leitfaden „Barrierefrei hören und kommunizieren in der Arbeitswelt“ unterstützt hörkomm.de Unternehmen und Verwaltungen dabei, das Thema Schwerhörigkeit aus der Tabuzone zu holen und hörfreundliche, barrierefreie Arbeitsumgebungen zu schaffen. „Wir begreifen Schwerhörigkeit nicht allein als individuelle Behinderung, sondern auch als Folge verschiedenster Hör-Barrieren in der Umwelt“ erläutert Heike Clauss von hörkomm.de. „In unserem Leitfaden zeigen wir, was in Unternehmen getan werden kann, um das gute Hören in den Fokus zu stellen“.

Mit Abschluss der Projektförderung durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales ist der Online-Leitfaden nun vollständig auf der Internetseite www.hörkomm.de veröffentlicht. Er besteht aus verschiedenen Rubriken. Neben „griffigen“ Abschnitten zu guter Raumakustik, zu Alarmierung für Menschen mit Hörverlust und zu Technik zur Kommunikation zeigt eine Rubrik über hörfreundliche Unternehmenskultur auf, wie „Barrieren in den Köpfen“ gelöst und ein offener Umgang mit Höreinschränkungen gefördert werden kann.

Eine hörfreundliche Unternehmenskultur als gute Basis
In der Zusammenarbeit mit Experten und Betroffenen wurde deutlich, wie wichtig es ist, das Thema auf allen Betriebsebenen bis hin zum Management ins Bewusstsein zu rücken. Oft verschweigen Betroffene ihre Einschränkung und vermeiden es, wenn es noch irgendwie geht, ein Hörgerät zu tragen. Ihre Sorge vor einer Stigmatisierung ist zu groß. Doch die Folgen einer versteckten Schwerhörigkeit können ebenfalls gravierend sein. Sie reichen vom Leistungsabfall bis zu Überforderung und Burn-out.

Eine hörfreundliche Unternehmenskultur trägt dazu bei, einen solchen Teufelskreis zu durchbrechen. Ein Unternehmen kann mit verschiedenen Maßnahmen signalisieren: Uns ist gutes Hören wichtig. Es ist kein Tabu, ein Hörgerät zu tragen. Für Menschen mit Höreinschränkung gilt Chancengleichheit.

Ein Beispiel für die praktische Umsetzung liefert die AXA Konzern AG. Hier sensibilisierte der Betriebsärztliche Dienst für das Thema Schwerhörigkeit. „In einem Unternehmen, in dem Kundengespräche die Hauptrolle spielen, so wie es bei uns der Fall ist, steht ein Mitarbeiter, der sein Gegenüber schlecht versteht, unter Dauerstress“, weiß Dr. Marisa Biedermann, Leiterin des Betriebsärztlichen Dienstes der AXA am Standort Köln. Nicht nur dauerndes Nachfragen ist dann unangenehm für den Betroffenen, auch die kognitive Leistung, Nicht-Gehörtes mit verstandenen Elementen in Zusammenhang zu bringen, sorgt für eine ständige Anspannung. Um das gute Hören in den Fokus zu stellen, organisierte Marisa Biedermann mit ihrem Team eine Hörtest-Aktion. Im Anschluss an eine informative Auftaktveranstaltung lud sie nach und nach die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aller Abteilungen zum Hörtest in die Räume des Betriebsärztlichen Dienstes ein. Hier war einmal die Woche ein externer Hörgeräteakustikermeister anwesend und übernahm die Audiometrie. „Das Angebot wird erstaunlich gut angenommen“, stellte die Medizinerin fest. Bisher wurden 280 Mitarbeiter getestet, etwa zehn Prozent hatten ein auffälliges Ergebnis. Ihnen wurde zur weiteren Abklärung die Konsultation eines HNO-Arztes empfohlen. Durch die Aktionstage wurde das Hören zum Gesprächsthema und der offensive Umgang damit ermutigte, eigene Probleme eher anzugehen oder zu benennen.

Gute Akustik erleichtert das Sprachverstehen
In Büros und Besprechungsräumen mit vielen gläsernen und anderen schallharten Flächen können störende Schallreflexionen das Sprachverstehen extrem belasten. Sie wirken verdeckend und verzerrend auf das gesprochene Wort. Bereits beim Neubau sollte daher an eine gute Akustik gedacht werden. Um diese sicherzustellen, sollten Architekten angehalten werden, sich an den Empfehlungen der DIN 18041 zur „Hörsamkeit in Räumen“ zu orientieren. Doch auch in schon bestehenden Gebäuden gibt es Möglichkeiten der Nachrüstung. Der hörkomm.de-Leitfaden erläutert sowohl für Neubauvorhaben als auch für vorhandene Räumlichkeiten, wie gute Bedingungen für das Hören und Kommunizieren geschaffen werden können. Ergänzend dokumentieren Praxisbeispiele die Umsetzung verschiedener baulicher Maßnahmen.

So wurde etwa in der Hamburger Elbschule, einem Bildungszentrum für Kinder und Jugendliche mit Hörschädigung, ein Akustikexperte in die Planung des Umbaus eingebunden. Er hat die Räumlichkeiten der Schule messtechnisch erfasst und bewertet und entsprechende Lösungsvorschläge erstellt. Von der umgesetzten raumakustischen Gestaltung können auch Firmen lernen. Beispielsweise können schallschluckende Materialien an Decken, Wänden oder auf Raumteilern helfen, die Sprachverständlichkeit in Besprechungs- oder Sitzungsräumen zu verbessern. Die schallabsorbierenden Wandpaneele der Elbschule überzeugen nicht nur akustisch, sondern sind auch echte Hingucker: Einige sind mit riesigen Motiven des Hamburger Hafens bedruckt.

Eine Höranlage unterstützt die aktive Teilhabe an Kommunikation
Um Menschen mit Höreinschränkungen die Teilnahme an Konferenzen und Besprechungen uneingeschränkt zu ermöglichen, sind Anlagen zur technischen Hörunterstützung hilfreich. Sie können Wortbeiträge der Teilnehmenden direkt auf die Hörgeräte des Zuhörers oder ausgeteilte Kopfhörer übertragen.

Störgeräusche wie etwa Rascheln und Husten kann ein hörbehinderter Teilnehmer, selbst wenn er mit einem Hörgerät ausgestattet ist, nur schwer filtern. Die direkte Übertragung von Sprachinhalten ans Ohr hingegen ist nebengeräuschfrei. Die Tonsignale werden dann je nach Höranlage über Induktionsschleife, Funkwellen oder Infrarot-Lichtstrahlen übertragen. Der Leitfaden erklärt, welche Anlagen für welche Verwendung geeignet sind.

Auch hier haben die Projektmitarbeiterinnen von hörkomm.de Vorhaben begleitet und als Best-Practice-Beispiele dokumentiert. Das Seminarzentrum der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig beispielsweise wurde mit einer Höranlage ausgestattet, die mit frequenzmodulierten Funksignalen (FM) arbeitet. Bei der gewählten FM-Anlage werden die Worte des Sprechers mittels Großraumsender über FM an den Empfänger gesendet. Die PTB verfügt über 10 Empfänger, die von den hörbeeinträchtigten Beschäftigten ausgeliehen und dann am Körper getragen werden. Die Sprache wird nun direkt auf das jeweilige Hörgerät übermittelt. Die Empfänger sind nicht nur in allen Seminarräumen nutzbar, sondern können bei Bedarf auch mit weiteren Kleinsendern direkt am Arbeitsplatz für kleinere Besprechungen genutzt werden.

Alarmierung für Menschen mit Hörverlust sicht- oder fühlbar ausgeben
Der Ton des Rauchwarnmelders, das Schrillen einer Werksirene, das Piepen eines zurückfahrenden Fahrzeugs oder die Gegensprechanlage zur Notfallkommunikation im Personenaufzug basieren auf der Fähigkeit zu hören. Personen mit starker Hörminderung oder gehörlose Menschen können solche Informationen jedoch nicht wahrnehmen. Hörgeräte oder Cochlea-Implantate könnten vorübergehend funktionslos sein. Dies kann zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Gemäß Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) sind Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen beschäftigen, daher verpflichtet, ihre Sicherheits- und Schutzkonzepte auf deren Belange abzustimmen. Dieses trifft laut Bauordnungsrecht der Länder auch zu, wenn im Betrieb zwar keine Menschen mit Hörbehinderung arbeiten, die Arbeitsstätte aber ganz oder teilweise öffentlich zugänglich ist.

Die Anforderungen an eine barrierefreie Gestaltung von Arbeitsstätten werden über Technische Regeln für Arbeitsstätten (ASR) konkretisiert. Nach dem sogenannten Zwei-Sinne-Prinzip müssen Informationen über mindestens zwei der Sinne „Sehen“, „Hören“ oder „Tasten“ vermittelt werden. Für Beschäftigte mit Hörbehinderung müssen Sicherheitsaussagen demnach „taktil erfassbar oder visuell“ dargestellt werden. Im Gefahrenfall kann beispielsweise zusätzlich über gut sichtbare Lichtblitze oder farbige Rundumleuchten gewarnt werden. Lichtsignale müssen an allen Orten installiert werden, an denen sich Betroffene aufhalten können, also auch in Waschräumen oder Fluren. Als individuelle Lösung eignen sich körpernah getragene Kommunikationssysteme, die Vibrationen abgeben und den Betroffenen mit prägnanten Kurznachrichten warnen, z. B. „Achtung Feueralarm!“

Die Leitfaden-Rubrik über Alarmierung bietet neben praxisnahen Checklisten auch betriebliche Beispiele. In einem Gebäude des Bau- und Liegenschaftsbetriebs des Landes Nordrhein-Westfalen (BLB NRW) wurde zum Beispiel ein Aufzugsnotrufsystem installiert, das hörbehinderten Menschen die Möglichkeit bietet, über Touchscreen mit der Leitstelle zu kommunizieren. Über einen in der Aufzugkabine befindlichen Bildschirm können die Fragen der Leitstelle visualisiert und über berührungsempfindliche Bedienfelder mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden.

Leitfaden und Infothek unter www.hörkomm.de veröffentlicht
Die Maßnahmen der verschiedenen Handlungsfelder werden im Leitfaden ausführlich erläutert und als komprimierte Tipps in Checklisten zusammengefasst. Wer sich erst einmal einen Überblick verschaffen will, findet dort auch einen Kurzeinstieg in den Leitfaden. Er nennt Situationen, in denen Unternehmen auf barrierefreies Hören achten können und eignet sich auch zum Ausdrucken. Zudem stehen Materialien zur Aufklärung und Sensibilisierung der Belegschaft zur kostenlosen Weiterverwendung zur Verfügung.

Neben dem Leitfaden bietet der Internetauftritt auch eine Infothek. Hier lassen sich weitere Informationen rund um das Thema Hören finden, etwa zu unterschiedlichen Typen von Hörgeräten und ihrer Finanzierung. Die Liste „Wichtige Adressen“ reicht von Beratungsstellen der Selbsthilfe über Kostenträger bis hin zu Akustikexperten und Anbietern von Höranlagen oder schallabsorbierenden Materialien. Ein Wissenspool, der den Umsetzungsprozess erleichtert. So unterstützt das Projekt alle, die sich darum bemühen, dass gutes Hören und Kommunizieren am Arbeitsplatz eine uneingeschränkte Selbstverständlichkeit wird.

Heike Clauss

DIAS GmbH – Projekt hörkomm.de

Literatur

1. Monzani et al. (2008): Psychological profile and social behaviour of working adults with mild or moderate hearing loss, Acta Otorhinolaryngol Ital. 28(2), 61–66.

2. Sohn, W. (2000) : Aktueller Stand der Schwerhörigkeit in Deutschland, Hörakustik, 3, 6–7.

3. Sohn, W., Jörgenshaus, W. (2001): Schwerhörigkeit in Deutschland. Repräsentative Hörscreening-Untersuchung bei 2000 Probanden in 11 Allgemeinpraxen, Z. All. Med. 77, 143–147.

Aktuelle Ausgabe

Partnermagazine

Akademie

Partner