Zusammenfassung
In letzter Zeit erreichen uns Berichte von Kieferknochennekrosen in Verbindung mit einer Bisphosphonat-Therapie. Die kausale Verknüpfung dieser Erkrankung mit der Medikation ist bisher nicht gesichert, jedoch ist die ßhnlichkeit der beschriebenen Kieferknochennekrosen mit der alten Berufskrankheit Phosphorkieferknochennekrose auffallend. Im Rahmen dieses ßbersichtsartikels geben wir einen ßberblick über Historie, Pathophysiologie und Klinik der Berufskrankheit Phosphorkieferknochennekrose.
Schlüsselwörter: Phosphorkieferknochennekrose, Phosphor, Berufskrankheit, Bisphosphonate, Zündhölzer
Abstract
By and by a few reports on osteonecrosis of the jaws associated with a Bisphosphonate-therapy are released. The causal association between that disease and the mentioned drugs is not yet ensured, but amazingly there is a similarity to an old occupational disease called phossy jaws. Within this report we overlook the historic, pathophysiological and clinical aspects of phossy jaws.
Key words: phossy jaw, phosphorus, occupational disease, bisphosphonates, match sticks
Einleitung
In den vergangenen beiden Jahren erreichten uns insbesondere aus den USA Berichte über Kieferknochennekrosen und Osteomyelitiden in Verbindung mit einer Bisphosphonat-Therapie 1, 2, 3, 4. Inwiefern die Bisphosphonate kausal-ätiologisch mit den genannten Krankheitsbildern verknüpft sind, ist bislang unklar. Verblüffend scheint jedoch die ßhnlichkeit im klinischen Bild mit der alten Berufskrankheit “Phosphor-induzierte Kieferknochennekrose” 5, 6, 7, 8, 9.
In Rücksprache mit den publizierenden Kollegen aus den USA und der deutschen Arzneimittelkommission im August 2004 stellten wir fest, dass die genannte Berufskrankheit nicht mehr im allgemeinen medizinischen Bewusstsein verankert ist. Dies ist sicherlich u.a. darin begründet, dass die Erkrankung in den letzten Jahrzehnten infolge industrieller Umstellungen selten geworden ist “ laut Auskunft des Hauptverbands der gewerblichen Berufsgenossenschaften wurden im Zeitraum 1998 bis 2002 keine Berufskrankheitenanzeigen darüber erstattet [BK-Ziffer 1109]. Mittlerweile wurde auch von der deutschen Arzneimittelkommission hierzu eine Stellungnahme verfasst 10.
Vor diesem Hintergrund möchten wir einen historischen und medizinischen ßberblick über die Berufskrankheit “Phosphor-induzierte Kieferknochennekrose” geben.
Chemische Charakteristika des Phosphor
Phosphor ist ein Nichtmetall in festem Aggregatzustand, das 1674 vom Hamburger Alchemisten Henning Brandt erstmals beschrieben wurde. Phosphor existiert in drei allotropen Hauptmodifikationen: der weiße Phosphor ist selbstentzündlich mit einem Flammpunkt bei 44,5 °C. Unter Exposition gegenüber Sonneneinstrahlung überzieht er sich mit einer rötlich-weißen Schicht und wird daher auch gelber Phosphor genannt. Weißer Phosphor ist äußerst toxisch 11, 12.
Daneben existieren roter und schwarzer Phosphor, die beide einen deutlich höheren Flammpunkt aufweisen (ca. 260 °C) und wesentlich geringer toxisch sind.
Historie
Die sog. Tunkhölzer vor der “Phosphor-ßra” mussten umständlich mit Schwefelsäure befeuchtet werden, insofern lag die Verwendung des leichtentzündlichen weißen Phosphor zur Zündholzherstellung nahe 8. Siegel in ßsterreich und Kammerer in Deutschland entwickelten 1832 fast zeitgleich das Zündhölzchen mit weißem Phosphorkopf und bereits 1833 entstanden in Wien, auch getriggert durch den Holzreichtum des Landes, drei Zündholzfabriken 8. Neben vielen Großmanufakturen in ganz Europa und den USA wurden auch unzählige Heimmanufakturen gegründet, wobei in diesen sicherlich von einer noch größeren Belastung ausgegangen werden muss, so dass auch im Hinblick auf das unten beschriebene Krankheitsbild hier eine erhebliche Dunkelziffer anzunehmen ist.
Der erste überlieferte Krankenbericht über eine Kieferknochennekrose bei Zündholzfabrikarbeitern stammt aus dem Jahr 1839 (Deutschland) 7, 1844 berichtet der österreichische Chirurg Friedrich Wilhelm Lorinser ebenfalls über fünf Mädchen mit Kieferknochennekrosen, die allesamt in einer Zündholzfabrik gearbeitet hatten8; jedoch konnte der kausal-ätiologische Zusammenhang zwischen der Phosphorexposition und der Nekrose noch nicht hergestellt werden. Die pathophysiologischen Vorstellungen reichten zu dieser Zeit von “Folgen eines ausschweifenden Lebenswandels” über “Syphilis” bis hin zu “Strophulus” und “rheumatischer Periostitis”. Folgenschwer war die Fehlannahme, dass es sich bei der Erkrankung um eine Nebenwirkung von “Zugluft” handele, so wurden sukzessiv die Fenster und Türen in den Fabriken geschlossen. Diese vermeintliche Primärprophylaxe führte jedoch zu weiter steigenden Phosphordampfkonzentrationen in der Umgebungsluft 7, 8.
Erst 1845 weist ein Mitarbeiter von Lorinser, A. Oberhofer (Wien), auf die mögliche Kausalverknüpfung “Phosphorinkorporation “ Kieferknochennekrose” hin und im gleichen Jahr definiert Heyfleder aus Erlangen die Erkrankung Phosphorkieferknochennekrose 7, 8. Bereits 1846 soll ein erstes Dekret in ßsterreich den Schutz der Arbeiter gewährleisten; so wurden u.a. Hallengrößen der Fabriken festgeschrieben, eine wöchentliche Reinigung der Arbeitsräume avisiert, ein Essverbot in den Hallen ausgesprochen, und sogar monatliche ärztliche Untersuchungen wurden als sinnvoll erachtet. Leider hatte dieses Dekret nur “Vorschlagscharakter”, und die Fabrikherren leisteten nur zögerlich Folge.
So kam es, dass 1866 bis 1875 in Wiener Krankenanstalten 126 Fälle von Kieferknochennekrosen gezählt wurden (nebst den nicht eingerechneten ambulanten Fällen), 1896 bis 1904 traten in ßsterreich ca. 350 Neuerkrankungen auf. Auch folgende Zahl verdeutlicht das arbeitsmedizinische und sicherheitstechnische Problem: von 1895 bis 1904 wurden in den ßsterreichischen Krankenhäusern 1137 Fälle einer akuten Phosphorvergiftung gezählt 8.
1845 (!) bereits stellt Anton Schrötter am Wiener Polytechnikum durch Erhitzen von weißem Phosphor unter Luftabschluss roten Phosphor her. Es sollten jedoch noch fast zehn Jahre vergehen, bis Johann Lundstr߸m 1854 “ungiftige” Zündhölzer mit rotem Phosphorkopf entwickelt 7. Es folgte ein sukzessives Verbot der Herstellung von Zündhölzern mit weißem Phosphorkopf, initial 1872 in Finnland, 1874 in Dänemark und 1898 in der Schweiz, 1901 folgten die Niederlande und Schweden, 1907 Deutschland, 1910 England, 1912 ßsterreich, und die USA legten 1931 ein Im- und Exportverbot fest und besteuerten die “alten” Zündhölzer hoch, was einem Verbot gleichkam 11.
Zur Exposition
In den Zündholzfabriken arbeiteten zumeist Kinder, Jugendliche und junge Frauen, da es sich um körperlich leichte Arbeit handelte und eine gewisse manuelle Geschicklichkeit gefordert war. Die Zündhölzer wurden von ihnen in erhitzte Phosphorzündermasse eingetaucht und zum Trocknen ausgelegt. Dabei war die Luft durch Aerosole der Zündermasse mit Phosphor geschwängert und wurde während einer Arbeitszeit von 16 Stunden täglich inhaliert. Daneben aßen die Arbeiter an ihrem Arbeitsplatz, so dass die Inkorporation von Phosphor durch verunreinigte Nahrungsmittel einen wohl nicht unerheblichen Beitrag zur Exposition leistete 7. Abschließend soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Arbeitsbedingungen in den Heimmanufakturen sicherlich noch schlechter waren, wobei hier valide Zustandsberichte fehlen.
Aktuelle Situation
Umgang (und damit potentielle Expositionen) mit Phosphor besteht heute noch bei der Phosphorgewinnung, Munitionsherstellung, in der Feuerwerksindustrie, in der chemischen Industrie und anderen ausgewählten Bereichen. Wie oben bereits beschrieben, sind die Kieferknochennekrosen und überhaupt Erkrankungen durch Phosphor selten geworden 11.
Allgemeine Toxikologie des Phosphor
Phosphor hemmt durch sein starkes Reduktionsvermögen die intrazelluläre Oxidation und wirkt damit als Zellgift. Vergiftungen treten durch inhalative Aufnahme von Aerosolen auf. Zumeist in suizidaler Absicht oder akzidentell sind auch perorale Intoxikationen bekannt geworden 13. Auch eine dermale Toxizität ist bekannt (Hautverbrennungen in Geschwürform mit schlechter Heilungstendenz).
Nach akuter peroraler oder pulmonaler Exposition steht zuerst die Mukosareizende Wirkung im Vordergrund. Oft folgt ein symptomfreies Intervall (6 “ 48 Stunden), woran sich Erbrechen (ggf. fluoreszierender Mageninhalt und Fäzes!), Zephalgien, abdominelle Koliken, Hämatochezie und Fieber anschließen. Schließlich zeigt sich das Vollbild einer Nierenschädigung und eine akute, gelbe Leberdystrophie 12.
Chronische Einwirkungen (auch nur kleinster Mengen) können zu unspezifischen Magen-Darm-Störungen, Anämie, Blutungsneigung, Gewichtsverlust, Nierenschädigungen und Muskelschwäche, sowie nekrotisierenden Knochenprozessen führen. Diese ossären Erscheinungsformen der Phosphorvergiftung können auch noch Jahre nach Expositionsende auftreten 13.
Sie verlaufen typischerweise in drei Stadien 12, 14:
Stadium 1: Apposition von Kalksalzen mit Periostverdickung, bei wachsenden Knochen auch Verbreiterung der Epiphysenlinien.
Stadium 2: Andauernde Apposition und überlappend beginnende Resorption.
Stadium 3: Nun überwiegt die Resorption, es zeigt sich das Bild einer Osteoporose mit röntgenologischem Wiederhervortreten der Epiphysenlinien, wobei die Knochenatrophie initial an den Apophysen sichtbar wird. Im Zuge der Osteoporose können Spontanfrakturen und Nekrosen auftreten.
Die Phosphor-induzierte Kieferknochennekrose (KKN)
Der einschlägigen Literatur ist zu entnehmen, dass die KKN nur durch elementaren Phosphor entstehe. Meist ging dem Krankheitsbild eine langjährige Expositionsdauer (7″15 Jahre) voraus, jedoch sind auch Einzelfälle mit Expositionszeiten von nur wenigen Monaten beschrieben 7, 12, 14.
Die Pathophysiologie der KKN wird folgendermaßen erklärt: Neben der beschriebenen Osteoporose kommt es auch zu einer Schädigung des Endothels der ossären Gefäße durch Phosphor. Durch sukzessive Thrombosierung der Knochengefäße entwickelt sich eine Ernährungsstörung des Knochens mit verminderter Infektabwehr 12.
Gerade die Kieferknochen sind hochexponiert gegenüber Fremdkörpern und Krankheitserregern; via Karies, insbesondere aber auch nach Zahnextraktionen, über verletzte Schleimhaut und Druckgeschwüre durch schlecht sitzende Zahnprothesen können Bakterien bis zu den Kieferknochen vordringen. Es entstehen eine Periostitis und schließlich eine Osteomyelitis.
Diese äußerst schmerzhafte Osteomyelitis geht mit Eiter- und Abszessbildung, Ausbildung von Fistelgängen (zu Mund, Hals, Nasennebenhöhlen etc.) und schließlich einer Nekrose mit typischer Sequesterbildung einher. Ohne adäquate Therapie “ wobei sich diese auch heute noch äußerst schwierig gestaltet “ wird schließlich ein großer Teil oder gar der gesamte Kieferknochen zerstört (entstellende Erkrankung!), Augapfel und angrenzende Strukturen können mitbetroffen sein, schließlich endeten in früheren Zeiten infolge eitriger Meningitis oder Sepsis 40 % aller KKN mit dem Tod 7.
Augenfällig ist, dass die Mandibula deutlich häufiger als die Maxilla betroffen war; ein Erklärungsversuch ist die bessere Durchblutung der Maxilla mit folgerichtig besserer Heilungstendenz, wohingegen die Mandibula, welche nur über ein Zentralgefäß versorgt wird, deutlich schlechtere Voraussetzungen der Infektheilung erfülle.
Therapie und Prophylaxe
Sicherlich hat zur hohen Letalität der Erkrankung auch die inadäquate Therapie beigetragen, antibiotische Therapie war nicht verfügbar, die solitäre operative Ausräumung der nekrotischen Bezirke war von häufigen Rezidiven gefolgt und per se mit hoher Letalität behaftet.
Auch heute noch ist die Kieferknochennekrose nur schwierig behandelbar: Neben antibiotischer Therapie werden Sequestrotomie, Spongiosaplastik und auch die hyperbare Oxygenierung eingesetzt.
Neben dem Ersatz des weißen Phosphor durch mindergiftige allotrope Modifikationen oder gar dem vollständigen Verzicht, sollte bei exponierten Arbeitern eine Gebisssanierung vor Aufnahme der Tätigkeit erfolgen, im Laufe der Arbeit müssen regelmäßig zahnärztliche Kontrollen durchgeführt werden und schließlich sollte nach Zahnextraktion oder ßhnlichem bis zur vollständigen Heilung ein Beschäftigungsverbot ausgesprochen werden.
Aktueller Bezug
Auch wenn der Zusammenhang der beschriebenen KKN mit einer Bisphosphonat-Therapie ätiologisch noch nicht gesichert ist, ist die ßhnlichkeit des aktuell beschriebenen Krankheitsbildes mit der alten Berufskrankheit erstaunlich. Wir erkennen jedoch auch die Differenzen, insbesondere im Hinblick auf die unterschiedliche Kinetik und Metabolisierung von elementarem Phosphor und den Bisphosphonaten. Wir hoffen dennoch mit unserem Hinweis insbesondere über die Pathophysiologie der Berufskrankheit durch Phosphor einen kleinen Beitrag zum Verständnis der neu-beschriebenen Entität leisten zu können.
Literatur-Verzeichnis
1 Carter G, Goss AN, Doecke C. Bisphosphonates and avascular necrosis of the jaw: a possible association. MJA 2005; 182 (8): 413-415
2 Marx RE. Pamidronate (Aredia) und zoledronate (Zometa) induced avascular necrosis of the jaws: a growing epidemic. J Oral Maxillofac Surg 2003; 61: 1115-1117
3 Ruggiero SL, Mehrotra B, Rosenberg TJ, Engroff SL. Osteonecrosis of the jaws associated with the use of bisphosphonates: a review of 63 cases. J Oral Maxillofac Surg 2004; 62: 527-534
4 Schwartz HC. Osteonecrosis and bisphosphonates: correlation versus causation. J Oral Maxillofac Surg 2004; 62: 763-764
5 Ansell G. Röntgendiagnostik von Schäden durch Medikamente und Giftsubstanzen. Thieme Verlag, Stuttgart 1989
6 Buchter A. Osteonekrosen des Kiefers unter Bisphosphonaten entsprechen der Phosphor-Kiefernekrose. Saarländisches ßrzteblatt 2004; 12: 8-9
7 Karbe KH. Zur Frühgeschichte des Kampfes gegen die Phosphornekrose in Deutschland. Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 1976; 6: 447-454
8 Lesky E. Die Phosphornekrose, klassisches Beispiel einer Berufskrankheit. Wiener klinische Wochenschrift 1966; 37: 601-604
9 Müller M, Böcher A, Buchter A. Phosphor-induzierte Kieferknochennekrose “ eine “alte” aktuelle Berufserkrankung. Poster im Rahmen der 45. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e.V., Bochum, April 2005
10 Arzneimittelkommission der deutschen ßrzteschaft. Bisphosphonate und Knochennekrosen. Deutsches ßrzteblatt 2005; 8: A 529
11 Baxter PJ, Adams PH, Tar-Ching AW, Cockcroft A, Harrington JM. Phosphorus. In: Hunter”s diseases of occupations; 9th edition. 97-99. Verlag Arnold, London 2000
12 Erhardt W. Erkrankungen durch Phosphor oder seine Verbindungen. In: Baader, Lehmann, Symanski, Wittgens: Handbuch der gesamten Arbeitsmedizin. 197-217. Urban & Schwarzenberg, Berlin-München-Wien 1961
13 Valentin H. Erkrankungen durch Phosphor oder seine anorganischen Verbindungen. In: Valentin, Lehnert, Petry, Weber, Wittgens, Woitowitz: Arbeitsmedizin. 38-41. Thieme Verlag, Stuttgart 1979
14 Lederer E. Knochenerkrankungen durch gewerbliche Gifte. In: Koelsch Handbuch der Berufserkrankungen. 515-516. Gustav Fischer Verlag, Jena 1972
Anschriften der Verfasser
Dr. med. Marc Müller, Dr. med. Arne Böcher, Prof. Dr. med. Axel Buchter
Institut und Poliklinik für Arbeitsmedizin der Universität des Saarlandes
und Präventivmedizinisches Zentrum für arbeits- u. umweltbedingte Erkrankungen
Universitätsklinikum des Saarlandes
66421 Homburg/Saar
Leiter: Univ.-Prof. Dr. med. A. Buchter.
M. Müller, A. Böcher, A. Buchter