Die Tätigkeiten in den Unternehmen des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sind durch den direkten Kontakt der Beschäftigten zu Kunden und anderen Verkehrsteilnehmern gekennzeichnet. Insbesondere bei der Fahrgastbeförderung, dem Fahrscheinverkauf, der Fahrscheinkontrolle oder der Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit kommt es immer wieder zu Konflikten. Hieraus ergeben sich für Fahrdienstmitarbeiter, Fahrausweisprüfer sowie Mitarbeiter des Ordnungs- und Sicherungsdienstes Gefährdungen durch Gewaltanwendung.
Gewalt als Schwerpunkt im
Unfallgeschehen
In der Branche ÖPNV/Bahnen sind Arbeitsunfälle, die durch Tätlichkeiten und direkte Gewaltanwendung auf Beschäftigte der Verkehrsunternehmen verursacht werden, ein wesentlicher Schwerpunkt im Unfallgeschehen: Fast jeder zehnte Arbeitsunfall wird durch diese sogenannten „Übergriffe Dritter“ auf Versicherte verursacht – und das sind nur die Fälle, die mit einer Arbeitsunfähigkeit von mehr als drei Tagen meldepflichtig sind. Bei einer Vielzahl von Übergriffen liegt die Arbeitsunfähigkeit unter drei Tagen. Hinzu kommen noch die Ereignisse, die gar nicht gemeldet oder verschwiegen werden. Die tatsächliche Zahl der Übergriffe ist also wesentlich höher. Während die Anzahl der Arbeitsunfälle insgesamt seit Jahren kontinuierlich sinkt, ist dieser Trend bei den Unfällen durch Gewaltanwendung auf Beschäftigte der Verkehrsunternehmen nicht erkennbar. Geht man von der Gesamtzahl der Unfälle aus, ist also ein steigender Anteil von Unfällen durch Übergriffe zu verzeichnen. Abbildung 1 fasst die Dauer der Arbeitsunfähigkeit nach Übergriffen zusammen.
Auslöser sind oft banale Vorfälle
Die Ursachen für Gewaltanwendung sind vielschichtig. Kriminalstatistiken belegen, dass es in der Gesellschaft eine zunehmende Gewaltbereitschaft gibt. Steigende Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Abstieg beeinflussen das Verhalten von Kunden und dritten Personen. Schon kleine Vorfälle, wie zum Beispiel eine Verspätung, ein verpasster Anschluss, ein zu starkes Bremsen, die Kontrolle des Fahrausweises oder der Hinweis auf Konsumierungsverbote in Fahrzeugen und Haltestelle reichen aus, dass Gewalt gegenüber Beschäftigten des Verkehrsunternehmens ausgeübt wird. Und nicht nur das: Die Unternehmen verzeichnen neben der erhöhten Gewaltbereitschaft auch eine Zunahme der Intensität der einzelnen Übergriffe. Hierdurch werden auch vermehrt längere Arbeitsunfähigkeitszeiten verursacht.
Was kann der Betrieb tun?
Bevor das Unternehmen Maßnahmen festgelegt, sind die Gefährdungen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung zu ermitteln. Die Fachkraft für Arbeitssicherheit ermittelt gemeinsam mit den Führungskräften Gefährdungen und Belastungen, beurteilt das Risiko und legt Schutzmaßnahmen fest. Nach der Umsetzung werden die Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit kontrolliert.
In vielen Unternehmen gibt es gezielte Maßnahmen zur Reduzierung von Übergriffen auf die Beschäftigten. Durch bauliche Maßnahmen an Haltestellen, Wendeschleifen oder Dienstgebäuden werden die Verkehrswege übersichtlicher gestaltet und besser ausgeleuchtet. Schließanlagen schützen vor unbefugtem Zutritt durch Betriebsfremde. Fahrzeuge werden offener gestaltet und sind größtenteils videoüberwacht. Die Beschäftigten werden im Umgang mit Kunden geschult. Sie erhalten Deeskalations-, Kommunikations- oder Stresspräventionstrainings zur Erhöhung ihrer persönlichen Ressourcen.
Für den Erfolg der Maßnahmen ist ein aufeinander abgestimmtes betriebliches Vorgehen entscheidend – Einzelmaßnahmen und Aktionismus sind in der Praxis nicht zielführend. Vielmehr benötigen Unternehmen ein abgestimmtes Konzept zur Prävention von Gewalt. Entsprechend der Arbeitsschutzhierarchie gehen hier technische Maßnahmen vor organisatorischen und personenbezogenen Schutzmaßnahmen.
Bei der Erstellung eines betrieblichen Konzeptes arbeiten Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsarzt oder Betriebsärztin mit den Führungskräften zusammen. Die größte Herausforderung ist dabei, gemeinsam ein betriebliches Maßnahmenkonzept zu erstellen, dass alle Gefährdungen und alle Tätigkeiten berücksichtigt und von allen getragen wird.
Präventionskonzept der VBG
Unterstützung können sich die handelnden Personen der Verkehrsunternehmen bei der VBG holen. Sie ist als Unfallversicherungsträger zuständig für alle Verkehrsunternehmen, die Verkehr auf der Schiene anbieten oder früher angeboten haben. Hierzu gehören die Mehrzahl der Unternehmen, die in den großen Städten und Verbünden Verkehrsleistungen erbringen, die privaten Eisenbahnen des Personen- und Güterverkehrs sowie branchennahe Serviceunternehmen. Die VBG hat ein Präventionskonzept entwickelt, mit dem die Unternehmen der täglichen Gewalt gegenüber ihren Beschäftigten begegnen können. Es besteht aus mehreren, aufeinander abgestimmten Maßnahmen. Dazu gehören im Einzelnen:
- Beratung der Mitgliedsunternehmen durch den Präventionsdient der VBG,
- Information und Sensibilisierung der Führungskräfte,
- Publikationen wie „VBG Fachwissen: Sicherheitsmaßnahmen gegen Übergriffe Dritter in Verkehrsunternehmen“ (bisher: BGI 5039)
- Entwicklung eines Seminarkonzeptes durch das Institut für Arbeit und Gesundheit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (IAG) zur Ausbildung von Multiplikatoren aus den Mitgliedsunternehmen,
- Lernprogramm „Es geht auch anders – Konfliktbewältigung in Bahn und Bus“ zur Unterstützung der betrieblichen Ausbildung.
Diese Punkte werden in den folgenden Abschnitten kurz ausgeführt.
Beratung
Der Präventionsdienst der VBG berät gezielt Führungskräfte in den Verkehrsunternehmen. Auf der Basis des betriebsspezifischen Unfallgeschehens werden Besonderheiten des jeweiligen Unternehmens berücksichtigt.
Information und Sensibilisierung
Führungskräfte in den Verkehrsunternehmen müssen erkennen, welche Handlungsmöglichkeiten, aber auch welche Pflichten, sie zum Schutz ihrer Beschäftigten vor Übergriffen durch gewaltbereite Personen haben. Häufig ist ihnen das Problem bewusst, ohne dass daraus ein konkreter Handlungsbedarf abgeleitet wird. Von den Führungskräften hängt es aber ab, ob und welche Maßnahmen in den betroffenen Abteilungen (zum Beispiel Fahrausweisprüfdienst, Fahrdienst oder Sicherheitsdienst des Unternehmens) getroffen werden. Die VBG bietet daher für Führungskräfte und Beschäftigte, die innerbetrieblich mit dem Thema Gewaltprävention beauftragt sind, das Seminar „Prävention in Verkehrsunternehmen gegen Konflikte mit Kunden und gegen Übergriffe Dritter“ an. In diesem Seminar werden die Ursachen für Gewalt und Übergriffe auf die Beschäftigten erarbeitet und analysiert. Die Teilnehmer können ihre eigenen Konzepte vorstellen und erhalten dazu Feedback. Im Seminar wird außerdem das Konzept eines großen Verkehrsunternehmens ausführlich vorgestellt. Mit diesen Informationen entwickeln die Teilnehmer ein eigenes betriebliches Konzept zur Gewaltprävention. In dem Seminar wird auch das Moderatorentraining für betriebliche Ausbilder und Führungskräfte vorgestellt.
Publikationen
In der Veröffentlichung „Sicherheitsmaßnahmen gegen Übergriffe Dritter in Verkehrsunternehmen“ (bisher: BGI 5039) werden technische, organisatorische und personenbezogene Maßnahmen zum Schutz der Beschäftigten vor Übergriffen benannt. Zielgruppe dieser VBG-Fachinformation sind die Unternehmen. Darin wurden die bestehenden Regelungen zur Gestaltung der Fahrzeuge und Betriebsanlagen überarbeitet und ergänzt. Ausgehend von den Gefährdungen für die besonders betroffenen Beschäftigtengruppen der Verkehrsunternehmen werden mögliche Maßnahmen dargestellt. Dabei werden den Unternehmen auch Hinweise und Empfehlungen zur Auswahl von Beschäftigten für bestimmte Tätigkeiten und deren Ausbildung gegeben.
Seminarkonzept
Im Rahmen eines Projektes der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) wurde am IAG im Auftrag und in Zusammenarbeit mit der ehemaligen BG BAHNEN ein branchenspezifisches Multiplikatoren-Training zur Prävention von Gewalt am Arbeitsplatz entwickelt. Zielgruppen sind Führungskräfte und geeignete Lehrkräfte. Die Multiplikatoren-Ausbildung vermittelt präventive Maßnahmen im Sinne der Früherkennung zur Vorbeugung von Konflikteskalationen und Gewalt. Die Multiplikatoren lernen dabei, die operativ tätigen Beschäftigten im Fahrdienst und Fahrausweisprüfdienst in Hinblick auf deeskalierendes Verhalten in Konfliktsituationen mit Fahrgästen zu schulen. Als Multiplikatoren werden Führungskräfte ausgebildet, die Verantwortung für Beschäftigte haben, welche durch den Umgang mit Kunden und durch Übergriffe Dritter besonders gefährdet sind. Geeignete Multiplikatoren für die Zielgruppe sind auch Fahrdienstleiter, Fahrlehrer, Verkehrsmeister oder Betriebshofleiter. Das Moderatorentraining ist inhaltlich in vier Module gegliedert, die jeweils aus einzelnen thematischen Bausteinen bestehen. Das Modul „Einführung“ widmet sich der Begriffsklärung und der Entstehung von Gewalt. Es bildet somit die theoretische Grundlage für das Verständnis von Konflikt- und Gewaltsituationen und schafft damit das nötige Hintergrundwissen für die Entwicklung von Bewältigungsstrategien. Den Multiplikatoren werden mögliche Ursachen für aggressives Auftreten von Kunden aufgezeigt und in den entsprechenden Kontext eingebunden. Des Weiteren wird auf verstärkende Einflussfaktoren, wie zum Beispiel räumliche Enge eingegangen. Dem Einführungsmodul stehen die drei Module „Davor“, „Darin“ und „Danach“ gegenüber (vgl. Abbildung 3). Diese stellen den Kern des Seminars dar und bilden den 3-D-Ansatz. Dieser trägt der Komplexität von Konflikten im Arbeitsleben Rechnung. Operativ im Fahrdienst tätige Personen sind von Konflikten und Übergriffen Dritter nicht nur in der konkreten Situation betroffen. Sie müssen auch über Ressourcen verfügen, um Konflikten im Vorfeld aktiv vorzubeugen sowie (unvermeidliche) Konflikte im Nachgang verarbeiten zu können.
Lernprogramm
Zur Unterstützung der Moderatoren bei der betrieblichen Ausbildung bietet die VBG ein Lernprogramm an. Dieses richtet sich an Fahrer, Beschäftigte des Fahrausweisprüfdienstes und Zugbegleiter in Verkehrsunternehmen. Das interaktive Lernprogramm besteht aus einem Grundlagen und einem Übungsteil. Im Grundlagenteil werden die Inhalte des Moderatorenhandbuches aufbereitet. Im Übungsteil können die Lernenden in konfliktträchtigen Situationen ihre eigenen Reaktionen und ihr Verhalten trainieren. In der Rolle des Fahrers oder Fahrausweisprüfers entscheiden sie, wie sie in diesen Situationen reagieren würden. Sie erhalten dafür ein Feedback und sehen die Konsequenzen ihrer Entscheidung.
Fazit
Gewalt gegenüber Beschäftigten gehört zum Geschäft der Verkehrsunternehmen. Die Entwicklung zeigt, dass sich die Anzahl der Übergriffe nicht ohne weiteres reduzieren lässt. Die Unternehmen treffen gezielt technische und organisatorische Maßnahmen zur Gewaltprävention. In vielen Verkehrsunternehmen werden von ausgebildeten Moderatoren oder externen Trainern Schulungen für die Beschäftigten durchgeführt. Die Inhalte des VBG- Konzeptes werden in der Praxis genutzt und dafür an die betrieblichen Gegebenheiten angepasst. In ein- bis zweitägigen Schulungen mit oder ohne Nutzung des Lernprogramms werden die Inhalte vermittelt und vertieft. Die Schulungen stoßen bei den Teilnehmenden auf positive Resonanz. Sie werden als geeignetes Mittel dafür gesehen, die Beschäftigten zu befähigen, Konflikte bei der täglichen Arbeit zu bewältigen und Gewalt am Arbeitsplatz zu reduzieren.