02_Betriebliches Gesundheitsmanagement

Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention

Zielsetzung und Forschungsmethoden

Die Studie „Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz – Lösungsstrategien und Maßnahmen zur Intervention“ der Antidiskriminierungsstelle des Bundes befasst sich mit dem Ausmaß sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, dem Umgang damit sowie Empfehlungen zur Prävention und Intervention. Im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes wurde dafür von Juni 2018 bis Mai 2019 eine empirische Studie durchgeführt, geleitet von Vertr. Prof. Dr. Monika Schröttle am Institut für empirische Soziologie an der Universität Erlangen-Nürnberg (IfeS) und Dr. Henry Puhe vom SOKO Institut in Bielefeld. Sie beinhaltet eine repräsentative Telefonbefragung von 1.531 Personen, die in den vergangenen drei Jahren beschäftigt waren (inklusive Auszubildenden, PraktikantInnen und Selbstständigen), einen qualitativen Studienteil mit Vertiefungsinterviews von Betroffenen sowie Fokusgruppendiskussionen mit verschiedenen Zielgruppen, darunter Vorgesetzte, KollegInnen, BetriebsrätInnen, Frauenbeauftragte und AnwältInnen. Daneben wurden eine systematische Literaturanalyse sowie Rechtsfälle ausgewertet.

Ergebnisse

Ausmaß

Mit insgesamt neun Prozent der Befragten war etwa jede elfte erwerbstätige Person im Zeitraum der vergangenen drei Jahre von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen. Frauen haben mit einem Anteil von 13 Prozent deutlich häufiger als Männer (fünf Prozent) sexuelle Belästigung erlebt.

Formen und Schwere der Belästigung

Insgesamt wurde in der Studie eine große Bandbreite an Formen und Schweregraden von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sichtbar. Am häufigsten wurden verbale Belästigungen wie sexualisierte Kommentare (62 Prozent) oder Belästigungen durch Blicke und Gesten (44 Prozent) genannt. Unerwünschte Berührungen oder körperliche Annäherungen erfuhr rund ein Viertel
(26 Prozent) der Betroffenen. Weitere häufig erlebte Formen der sexuellen Belästigung waren das unerwünschte Zeigen sexualisierter Bilder und Filme, unerwünschte Aufforderungen zu sexuellen Handlungen, belästigende Nachrichten sowie unerwünschtes Entblößen. Erpressung und Nötigung sowie Zwang zu sexuellen Handlungen wurden selten genannt.

Deutlich wurde auch, dass es sich selten um einmalige Vorfälle, sondern meist um wiederholte Belästigungen handelt – 83 Prozent der Befragten erlebten mehr als eine solche Situation.

Viele Betroffene empfanden die sexuelle Belästigung als erniedrigend, belastend oder sogar bedrohlich, wie die Studie zeigt. So sagten 48 Prozent der betroffenen Frauen, sie hätten sich durch die Belästigung mittel bis sehr stark erniedrigt und abgewertet gefühlt (Männer 28 Prozent). Von mittelstarken bis sehr starken psychischen Belastungen berichteten 41 Prozent der Frauen und 27 Prozent der Männer. 30 Prozent der Frauen und 21 Prozent der Männer empfanden die Situation als mittel bis stark bedrohlich.

Die Studie zeigt auch, dass sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz betroffenen Personen und den Betrieben schadet. Betroffene weisen eine deutlich geringere Zufriedenheit mit dem Arbeitsplatz auf, sind zum Teil stärker gesundheitlich beeinträchtigt und bewerteten auch die Beziehungen zu ihren Vorgesetzten weniger positiv als nicht davon Betroffene.

Belästigende Personen

Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz geht mehrheitlich von männlichen Personen aus. 82 Prozent der Betroffenen gaben an, die belästigenden Personen seien ausschließlich oder überwiegend Männer gewesen. Weibliche Betroffene gaben zu 98 Prozent an, die belästigenden Personen seien männlich gewesen. Männliche Betroffene gaben dies zu 39 Prozent an, nannten zu 16 Prozent beide Geschlechter und zu 46 Prozent ausschließlich oder überwiegend Frauen.

Bei 43 Prozent der belästigenden Personen handelte es sich um gleichgestellte KollegInnen; 19 Prozent berichteten von Belästigungen durch Vorgesetzte oder andere höhergestellte Personen. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der belästigenden Personen war der Gruppe der KundInnen, KlientInnen und PatientInnen zuzuordnen. Auch hier sind Frauen deutlich häufiger von sexueller Belästigung betroffen.

Risiko nach Branchen und Berufsgruppen

Grundsätzlich besteht in allen Branchen ein Risiko der sexuellen Belästigung. Soweit dies angesichts geringer Fallzahlen möglich war, lassen sich jedoch einige Auffälligkeiten feststellen: Demnach sind am stärksten die Bereiche Gesundheits-und Sozialwesen (29 Prozent), verarbeitendes Gewerbe (elf Prozent Handel (zwölf Prozent), Verkehr (sechs Prozent), Wasser-und Energieversorgung und Erziehung und Unterricht (zehn Prozent) betroffen. Am stärksten waren entsprechend Mitarbeitende in Berufsgruppen betroffen, die einen KundInnenkontakt voraussetzen – in Dienstleistungsberufen (zu 13 Prozent). Auch bei akademischen Berufen und bei Führungskräften war eine höhere Betroffenheit festzustellen (jeweils zehn Prozent).

Reaktionen auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz und die Inanspruchnahme von Unterstützung

Betroffene sexueller Belästigung setzen sich zwar häufig verbal zur Wehr, sie schalten aber nur in vier von zehn Fällen KollegInnen, Vorgesetzte oder andere betriebliche bzw. professionelle Ansprechpersonen ein. Den Rechtsweg gehen sie praktisch nie. 23 Prozent der Betroffenen haben sich offiziell beschwert, etwa bei ihrem/ihrer Vorgesetzten, beim Betriebsrat oder der betrieblichen Beschwerdestelle. Vier Prozent haben sich Hilfe bei Beratungsstellen oder therapeutischen Einrichtungen gesucht. Nur ein Prozent leitete rechtliche Schritte ein. Als Gründe wurden unter anderem mangelnde Informationen, Angst vor unzureichender Anonymität und negativen Folgen sowie der Versuch, das Problem selbst zu lösen, genannt.

Die Vertiefungsbefragung der Betroffenen ergab außerdem, dass es für diese besonders schwierig ist, eine belästigende Situation zu beenden oder sich zur Wehr zu setzen, wenn es sich um Belästigungen durch Vorgesetzte handelt und/oder wenn die Betroffenen jung sind. Erschwert wird die Situation noch, wenn sie – wie etwa Auszubildende oder PraktikantInnen – in Abhängigkeitsverhältnissen stehen, wenig Berufserfahrung haben und nicht langfristig betrieblich eingebunden sind. Im Bereich des Gesundheits-und Sozialwesens kommt hinzu, dass Belästigungen durch KundInnen, PatientInnen und KlientInnen teilweise als „Berufsrisiko“ angesehen, bagatellisiert und ignoriert werden.

Gesetzlich sind nach § 13 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) alle ArbeitgeberInnen verpflichtet, eine betriebsinterne Beschwerdestelle einzurichten und Informationen über solche Stellen im Betrieb oder in der Dienststelle bekannt zu machen. Trotzdem hatten mehr als 40 Prozent der Beschäftigten keine Kenntnis über betriebsinterne Beschwerdestellen bei Diskriminierung und sexueller Belästigung.

Schlüsselrolle von Führungskräften

Führungskräfte und Vorgesetzte können durch die eigene Vorbildfunktion sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz weitgehend verhindern und beenden. Dazu gehört zunächst einmal, eine klare Position gegen sexuelle Belästigung einzunehmen und diese konsequent gegenüber allen Mitarbeitenden zu vertreten. Dies kann durch regelmäßige Informationen an die Mitarbeitenden über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, aber auch durch Unterstützungsmöglichkeiten erreicht werden. Wichtig sind ebenso verbindliche Richtlinien, Betriebsvereinbarungen und Verhaltenskodizes bzw. Selbstverpflichtungserklärungen, deren Inhalte allen Mitarbeitenden vermittelt werden. Sie sollten verbindliche Regeln zum geforderten Umgang der Mitarbeitenden, der Führungskräfte und der betriebsinternen Ansprechpersonen mit Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz umfassen.

Die Unternehmensleitung muss außerdem dafür Sorge tragen, dass Leitungspersonen bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz konsequent und zeitnah intervenieren. Voraussetzungen dafür sind verpflichtende Schulungen für Leitungs-und Führungskräfte, obligatorische Verpflichtungserklärungen, in denen auch einzuleitende Schritte und Maßnahmen festgelegt sind, sowie eine klare Festlegung der Vorgehensweisen, Verantwortlichkeiten und Sanktionierungsschritte.

Zudem müssen im Betrieb einerseits feste Ansprechpersonen bei Fällen von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz für anonyme, niedrigschwellige Beratung als auch offizielle Beschwerdestellen zur Verfügung stehen und bekannt gemacht werden. Die Beschwerdestelle sollte neutral sein; ihre Stellung und Position im Betrieb soll eine zeitnahe und erfolgreiche Intervention ermöglichen. Betriebs-und Unternehmensleitungen sollten darüber hinaus in regelmäßigen Abständen durch Befragungen und/oder anonyme Beschwerdemöglichkeiten ermitteln, ob und welche Probleme im Betrieb mit Blick auf sexuelle Belästigung und andere Formen der Diskriminierung bestehen. Daraus sollten dann entsprechend der Schutz- und Fürsorgepflichten gezielt weitere Maßnahmen zum Schutz und zur Prävention umgesetzt werden.

Betroffene besser und umfassender beraten

Neben internen Ansprechpersonen ist das Vorhandensein von externen Beratungsstellen notwendig – einerseits für Betroffene, die sich in schwierigen Macht-und Abhängigkeitssituationen befinden, andererseits auch für Beschäftigte kleinerer Betriebe. Daher sollten spezialisierte und unabhängige Beratungs-und Unterstützungsangebote für Betroffene von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz flächendeckend auf-und ausgebaut und finanziell ausreichend ausgestattet werden. Als besonders hilfreich werden branchenspezifische Stellen und ganzheitliche Angebote (mit psychosozialer, rechtlicher und psychologischer Beratung) eingeschätzt, die über besondere Kenntnisse der Arbeits-und Machtverhältnisse in der jeweiligen Branche verfügen. Darüber hinaus sollten auch Angebote für Belästigende geschaffen werden, die sie unterstützen können, ihr Verhalten nachhaltig zu ändern. Die Teilnahme an solchen Angeboten könnte von Unternehmen und Gerichten als Auflagen und niedrigschwellige Sanktions- und Interventionsmöglichkeiten genutzt werden.

Gesetzeslücken schließen

In Rechtsetzung und Rechtspraxis zeigen sich Lücken und Veränderungsbedarfe. Hier sind einige Punkte herauszuheben: Die derzeitig im
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) festgelegten Fristen von zwei Monaten für
die Geltendmachung von Ansprüchen (auf Schadensersatz und Entschädigung) sowie von drei Monaten für die Klageerhebung müssen verlängert werden. Der festgelegte Zeitraum wird von Betroffenen und Beratungsstellen als nicht ausreichend gesehen. Hinsichtlich der erforderlichen Zeit zur Verarbeitung der Gewalterfahrung und zur Einholung von Rechtsrat und Unterstützungsangeboten müsste diese Frist zur Ermöglichung der Rechtsmobilisierung zumindest auf die für vergleichbare Klagefristen in anderen Rechtsgebieten vorgesehenen sechs Monate verlängert werden.

Weitere Schutzlücken im Geltungsbereich des AGG müssen geschlossen werden, z. B. im Hinblick auf sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gegenüber Studierenden an Hochschulen, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz gegen Selbständige und FreiberuflerInnen, Organmitglieder, Menschen in ungeschützten Arbeitsverhältnissen und/oder Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis sowie Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten beschäftigt sind. Hier müssten u. a. Hochschulgesetze auf Landesebene und Regelungen für bestimmte Berufe, je nach Zuständigkeit auf Bundes- oder Landesebene, angepasst werden sowie eine Ausweitung des Schutzes vor sexueller Belästigung auf zivilrechtliche Bereiche im AGG erfolgen.

Es bedarf außerdem einer Regelung
der Haftung des/der ArbeitgeberIn bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durch Dritte: Hier müsste gesetzlich klargestellt werden, welche (Haftungs-) Pflichten ArbeitgeberInnen bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz durch KundInnen oder GeschäftspartnerInnen, aber auch durch ArbeitsKollegInnen haben.

Als eine wichtige Maßnahme werden auch die Schulung und Sensibilisierung der RechtsanwenderInnen zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, zu TäterInnenstrategien und zu verschiedenen Reaktions- und Verarbeitungsmechanismen von Betroffenen sexualisierter Gewalt gesehen. Solche Schulungsmaßnahmen sollten sich auch an RichterInnen richten, um sie für die besonderen Beweisprobleme in Fällen sexueller Belästigung zu sensibilisieren. Sexuelle Belästigungen ereignen sich oft in Vier-Augen-Situationen. Betroffene befinden sich deshalb in der Regel in Beweisnot. Nach der Gesetzesbegründung zum AGG sollen Gerichte deshalb alle Möglichkeiten zur Anhörung und Vernehmung des/der KlägerIn nach der Zivilprozessordung (§§ 141, 448 ZPO) ausnutzen für den Fall, dass keine Personen zur Verfügung stehen, die die sexuelle Belästigung bezeugen können.

Gesamtgesellschaftliche Prävention von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz

Es ist außerdem notwendig, die Prävention sexueller Belästigung am Arbeitsplatz gesamtgesellschaftlich anzugehen und die Öffentlichkeits-, Bildungs- und Informationsarbeit zu intensivieren. Ziel wäre der Anstoß von gesamtgesellschaftlichen Veränderungen, etwa den Abbau von Sexismus und ungleichen Machtverhältnissen zwischen den Geschlechtern, die eine wichtige Basis für sexuelle Belästigung darstellen. Hierzu sollte die Öffentlichkeitsarbeit zu sexueller Belästigung im Allgemeinen und zu sexueller Belästigung am Arbeitsplatz im Besonderen durch verschiedene AkteurInnen (Fachverbände und Fachberatungsstellen, Gewerkschaften, ArbeitgeberInnenverbände, öffentliche Verwaltung, Berufsverbände, Politik) sachlich und zielgruppengerecht intensiviert und verstetigt werden. Daneben braucht es eine Verstetigung und Intensivierung der Präventions-und Aufklärungsarbeit im gesamten Bildungsbereich, gesichert etwa durch eine feste Verankerung in den Bildungsplänen der Bundesländer und der Hochschulrektorenkonferenz.


Quelle

Antidiskriminierungsstelle des
Bundes, 11018 Berlin

www.antidiskriminierungsstelle.de

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