In Deutschland haben etwa 14,5 Millionen Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sowie ca. 500.000 Jugendliche zwischen zwölf und 17 Jahren zumindest einmal in ihrem Leben eine illegale Droge konsumiert. Diese Angaben basieren auf den aktuell verfügbaren Bevölkerungssurveys. Sowohl bei den Jugendlichen als auch bei den Erwachsenen nimmt Cannabis unter den illegalen Drogen die mit Abstand prominenteste Rolle ein. Im Vergleich zu anderen Drogen dominiert diese Substanz mit einer Zwölfmonatsprävalenz von fast acht Prozent unter den Zwölf- bis 17-Jährigen (!) und mit über sechs Prozent unter den 18- bis 64-Jährigen deutlich.
Seit März 2017 können Patienten unter bestimmten Voraussetzungen Cannabis als Medikament verschrieben bekommen. Die Meta-Analyse CaPRis erbrachte jedoch nur wenig Evidenz für den Einsatz von Cannabinoid-haltigen Arzneimitteln. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hatte am 6. Juli 2022 seinen Abschlussbericht zur Begleiterhebung von Cannabis in der Medizin veröffentlicht. Mit der Erhebung war das BfArM 2017 beauftragt worden, als der Bund die Möglichkeit zur Verschreibung von Cannabisarzneimitteln zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung rechtlich verankert hatte. Das Fazit (u. a. von Prof. Dr. Winfried Meißner, Jena): „(…) Es ist an der Zeit, dass die medizinische Zulassung und Erstattung durch die Solidargemeinschaft von Cannabinoiden auf der Basis hochwertiger Studien erfolgt – wie bei allen anderen Medikamenten – und das derzeitige Prozedere eine Übergangslösung bleibt.“
Der 125. Deutsche Ärztetag hatte bereits 2021 vor den möglichen Risiken einer Cannabislegalisierung für nichtmedizinische Zwecke gewarnt. Erfahrungen aus anderen Ländern deuteten auf einen erhöhten Konsum, mehr Cannabis-bedingte Notaufnahmen und einen steigenden psychiatrischen Behandlungsbedarf hin. Auch seien nach einer Freigabe mehr Suizide und tödliche Verkehrsunfälle zu erwarten. Dagegen gelänge es nur bedingt, den Schwarzmarkt auszutrocknen. Dies zeige ein Blick nach Kanada, wo Erwachsene seit 2018 Cannabis in lizenzierten Shops kaufen können. Trotzdem deckten ca. 35 Prozent der Konsumenten ihren Bedarf weiterhin über die illegalen (billigeren) Schwarzmarktprodukte.
Zu der bevorstehenden Legalisierung von Cannabis für den Freizeitkonsum erklärte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, am 17. August 2023 u. a.: „Die Bundesregierung und Bundesgesundheitsminister Lauterbach möchten den Cannabiskonsum legalisieren. Sie wollen den Eigenanbau erlauben und Cannabis-Clubs einführen. Gleichzeitig soll eine Aufklärungskampagne junge Menschen vor den erheblichen Gefahren des Kiffens warnen. Vielleicht erschließt sich die Ambivalenz dieser Logik im Rauschzustand, einer nüchternen kritischen Betrachtung hält sie jedenfalls nicht stand. (…) Der Bundesgesundheitsminister hat Medizin studiert. Er weiß und hat selbst öffentlich darauf hingewiesen, dass die Entwicklungsprozesse des Gehirns bis zum 25. Lebensjahr noch nicht abgeschlossen sind und der Konsum von Cannabis diese Prozesse negativ beeinflussen kann. Diese Schäden sind dauerhaft und bleiben lebenslang wirksam. So steigt das Risiko von nachhaltigen kognitiven Funktionsdefiziten, das Auftreten von Psychosen, Depressionen oder Angststörungen signifikant. (…) Trotz dieser schweren gesundheitlichen Gefahren will Minister Lauterbach schon Achtzehnjährigen den legalen Zugang zu Cannabis ermöglichen. Das ist kein Jugendschutz. Das ist hochgradig verantwortungslos …“
Die Befürworter argumentieren damit, dass in der Realität die Strafbarkeit große Teile der Bevölkerung aller Altersklassen nicht davon abhält, Cannabis zu Genusszwecken zu erwerben. „Wenn doch mal jemand mit einem Tütchen in der Tasche erwischt wird, sind die Konsequenzen oftmals ‚gleich Null‘. Ist für das Individuum das Argument ‚Geringfügigkeit‘ ausschlaggebend, entstehen gleichwohl für die Allgemeinheit Kosten für Polizei, Staatsanwaltschaft und Justiz. Zudem sei es der menschlichen Lunge egal, ob die gerauchten Zigaretten aus einer Schachtel mit Steuerbanderole kommen oder ins Land geschmuggelt wurden. Der Leber ist es egal, ob die konsumierten Schnäpse schwarz gebrannt wurden oder aus dem Feinkostgeschäft stammen. Verhindern lassen sich Suchtfolgen am ehesten durch präventive Aufklärung über die Gesundheitsgefahren, durch (staatliche) Kontrolle über die Inhaltsstoffe und gezielte Verkaufsbeschränkungen. Die Konsumenten weiter in der Illegalität zu lassen, mag ordnungspolitisch als Position vertretbar sein. Die gesundheitliche Diskussion jedoch ist keine so einfache. Und dass Cannabis – anders als andere Suchtstoffe – zwischenzeitlich als Medikament zugelassen ist, macht die Komplexität bei der Bewertung der (gesundheitsschädigenden) Eigenschaften dieser Substanz noch deutlicher. Wer heute Cannabis zu Genusszwecken illegal erwirbt, weiß nicht wirklich, was er da gerade im wahrsten Sinne des Wortes in der Tüte hat: Ist der Stoff lediglich gestreckt? Oder ist er zusätzlich versetzt mit anderen – wesentlich härteren – Drogen? Wer heute Cannabis zu Genusszwecken illegal erwirbt, den fragt der Dealer nicht nach dem Alter. Wer heute aus gesellschaftlicher und gesundheitlicher Verantwortung gezielt Präventionsarbeit leisten möchte, kann die in der Illegalität lebende Zielgruppe nicht erreichen. Dies gilt für alle Konsumentengruppen, insbesondere aber für die besonders schutzbedürftigen Kinder und Jugendlichen. Ganz zu schweigen von Steuereinnahmen, auf die der deutsche Fiskus – anders als zunehmend mehr Länder auf dieser Welt – verzichtet…“ (Prof. Dr. Andreas Meyer-Falcke, Düsseldorf).
Erwartungsgemäß trat das „CannG“ mittlerweile in Kraft. Somit muss sich die Ärzteschaft darauf einstellen, sich zukünftig vermehrt mit den Folgen des Cannabiskonsums zu befassen. In diesem Heft finden Sie einen Übersichtsartikel zur Pharmakologie von Cannabis als Einstieg in eine nüchterne Betrachtung der Problematik. Das „Pro und Contra“ wird aus Sicht der Suchtmedizin beleuchtet. Zudem konnten Beiträge zur verkehrsmedizinischen Bewertung sowie zu den möglichen Folgen der Legalisierung aus arbeitsmedizinischer Sicht gewonnen werden. Eine Darstellung der Probleme der Cannabinoid-Analytik und deren praktische Bedeutung runden das Themenheft ab. Allen beteiligten Autorinnen und Autoren sei an dieser Stelle sehr herzlich für ihre Mühe gedankt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Sie erhalten hier den (aktualisierten) Nachdruck eines Themenschwerpunktes des Ärzteblattes Thüringen (Heft 02 und 03/2024). Der Redaktion sei für die Genehmigung des Nachdrucks herzlich gedankt.
Mit freundlichen kollegialen Grüßen!
Prof. Dr. Michael Kretzschmar
Klinik für Schmerz- und Palliativmedizin
am SRH Wald-Klinikum Gera GmbH
E-Mail: michael.kretzschmar@srh.de
Silke Kretzschmar
Vorsitzende des Bundesverbandes
selbstständiger Arbeitsmediziner
und freiberuflicher Betriebsärzte e.V.
E-Mail: info@bsafb.de
Mit freundlicher Genehmigung der
Landesärztekammer Thüringen