Gehen Sie weg mit diesem Psychoquatsch! sagte der Sicherheitsingenieur des vom Verfasser untersuchten Unternehmens. Dass psychosoziale Faktoren im Arbeitsunfallgeschehen einen erheblichen, statistisch auffälligen Anteil am Gesamtunfallgeschehen haben, wollte der Technokrat nicht wahrhaben und bezeichnete den untersuchenden Verfasser schlichtweg als Psychoonkel. Dieser Artikel will einen psychosozial orientierten Arbeitsunfallfragebogen genauer vorstellen und Sicherheitsingenieure und Betriebsärzte weiter ermuntern, noch intensiver psychosoziale Arbeitsunfallursachen in den Fokus zu nehmen.
Allgemeines
Der psychosozial orientierte Arbeitsunfallfragebogen wurde im Jahre 2000 am Fachgebiet Arbeitsphysiologie, Arbeitsmedizin und Infektionsschutz im Rahmen einer Diplomarbeit von Schönberger entwickelt und von Bosselmann modifiziert und validiert.1
Er untersucht qualitativ die psychosozialen Problemstellungen bei der ausgeführten Arbeit und wird derzeit vom Ingenieurbüro Bosselmann (ibb consulting) zur Erstellung parameteroptimierter, differenzierender Arbeitsunfallstatistiken verwandt.
Allgemeine Informationen
In diesem Bereich werden das Geschlecht, das Alter und die Berufsbezeichnung des Verunfallten erfasst. Ebenso werden Informationen über die Berufserfahrung in seinem Arbeitsbereich, seinen Tätigkeitsbereich, die Größe des Betriebes und die Größe der Arbeitsgruppe ermittelt.
Die Unfallanalyse
Hier erfolgt zunächst eine qualitative Beschreibung des Unfallhergangs. Gefragt wird unter anderem auch nach der Unfallurzeit, der Verletzungsart, der voraussichtlichen Arbeitsausfallzeit und der Anzahl und Beschreibung der ursächlich am Arbeitsunfall beteiligten Personen.
Lag eine technische Ursache vor?
Diese Fragestellung impliziert bei einer Bejahung nicht das Fehlen psychosozialer Unfallursachen. Vielmehr soll die primär unfallauslösende Situation beschrieben werden; die Brisanz einer technisch gefährlichen Situation kann durch das gleichzeitige Vorhandensein psychosozialer Stressoren erheblich erhöht werden.
Worauf ist das technische Versagen zurückzuführen?
Diese Frage wurde in den Fragebogen mit aufgenommen, da die möglichen technischen Versagensgründe auch aus organisatorischen oftmals stressbedingten Umständen heraus entstehen. Die Beantwortung dieser Frage ist sowohl für die technisch Verantwortlichen, oft aber auch für Arbeits- und Organisationspsychologen im Betrieb interessant.
Lagen Konstruktionsmängel oder ergonomische Defizite vor?
Auch diese Frage erscheint vordergründig nur technisch interessant zu sein. Grundsätzlich erzeugen Konstruktionsmängel und ergonomische Defizite nach kurzer Zeit beim Mitarbeiter eine unkomfortable Stresssituation, die durchaus mit unfallauslösend sein kann.
Lag ein Störfall vor?
Störfälle die in technischen Betrieben übrigens öfter vorkommen lösen beim Mitarbeiter zunächst eine Stresssituation aus. Er versucht den Störfall parallel zum weiterlaufenden Arbeitsprozess zu klären. Folge: Stress durch kurzzeitige oder gar längerfristige Überforderung.
Lag eine ungewohnte Arbeitssituation vor?
Werden Mitarbeiter vor neue ungewohnte Arbeitssituationen gestellt, kann dies durchaus arbeitsunfallauslösende oder zumindest begünstigende Stressoren auslösen. Auch diese Fragestellung ist für arbeitsablauf organisierende Verantwortliche interessant.
War ausreichendes Wissen zur Bewältigung der aktuellen Arbeitsaufgabe vorhanden?
Ähnlich wie in der vorangegangene Frage, werden hier arbeitsorganisatorische Defizite untersucht. Fehlen dem Mitarbeiter die Informationen zur Erfüllung seiner Arbeitsaufgabe, so stellt ihn das vor eine ungewohnte, stressauslösende und unfallbegünstigende Situation.
Lag Zeitdruck vor? Worauf ist der Zeitdruck zurückzuführen?
Zwar wird im gewinnorientierten Unternehmen ein gesunder Zeitdruck vorausgesetzt bzw. für normal gehalten; trotzdem wirken sich chronischer oder auch akuter Zeitdruck negativ auf die psychische Befindlichkeit und somit auch auf die Arbeitsunfallanfälligkeit der Mitarbeiter aus.
Wurden zum Zeitpunkt des Unfalls mehrere Aufgaben gleichzeitig durchgeführt?
Hier soll die Frage nach einer Überforderung bzw. unfallbegünstigendes Multitasking geklärt werden. Zwar begünstigt die arbeitspsychologische Forderung nach einem humanen Job-Enrichment zwar auch das Auftreten zeitweise parallel abzuarbeitender Arbeitsaufgaben; die gleichzeitige Mehrfachbeanspruchung stellt aber in ungünstiger Dosierung sicherlich einen unfallbeeinflussenden Stressor dar.
Ist ein Risiko eingegangen worden? Wenn ja, welches?
Diese Frage wird von den Mitarbeitern in der Regel verneint. Kein Arbeitnehmer will sich in einer Befragung als risikofreudig bzw. fahrlässig darstellen. So ist diese Fragestellung auch vom Interviewenden nach der Beurteilung der objektiven Unfallursachen und einer subjektiven Einschätzung der Risikomentalität des Verunfallten zu beantworten.
Persönliche Schutzausrüstung (PSA) nicht getragen trotz Notwendigkeit? Welche? Warum nicht getragen?
Die a. o. von Bosselmann beschriebene Tragementalität der Mitarbeiter im Zusammenhang mit PSA zeigt, dass oftmals (!) notwendige PSA nicht getragen wird. Im untersuchten Unternehmen waren dies vorrangig die Schutzhandschuhe. Das Tragen notwendiger PSA wird oft aus Bequemlichkeitsgründen verweigert, ein Umstand, der dann entsprechende Verletzungen nach sich zieht. Da auch diese Fragestellung ein ggf. risikofreudiges Arbeiten untersucht, korreliert sie mit der vorangegangenen Frage, ob ein Risiko eingegangen wurde.
Ist der Unfall durch Unaufmerksamkeit verursacht worden?
Auch hier werden die meisten Befragten eine eigene Unaufmerksamkeit (natürlich) verneinen. Trotzdem ergibt sich für den Interviewenden durch die Unfallhergangsschilderung und die persönliche Einschätzung des Verunfallten recht bald eine plausible und belastbare Einschätzung der Aufmerksamkeitssituation zum Zeitpunkt des Unfalls.
Lagen physische oder physikalische Belastungen vor?
Hier wird besonders auf Stressoren wie Lärm, Hitzearbeit, Gefahrstoffe, Beleuchtungsdefizite, Nacht- bzw. Schichtarbeit und ergonomische Bedingungen abgehoben.
Wie ist die Stimmung am Arbeitsplatz? Allgemein, zum Zeitpunkt des Unfalls, Stimmung des Verunfallten zum Zeitpunkt des Unfalls? Ist der Konkurrenzdruck hoch?
Das untersuchte Unternehmen befand sich im Jahr 2000 in einer existenziellen Krise. Dieser Umstand wirkte sich negativ auf die Stimmung der Mitarbeiter aus, die täglich um ihren Arbeitsplatz fürchten mussten. Eine solche Stimmungslage wirkt sich latent auf die psychischen Befindlichkeiten der Mitarbeiter aus. Auch die Frage nach der Stimmung des Verunfallten zum Zeitpunkt des Unfalls ist arbeitspsychologisch interessant und kann in eine abschließende psychosozial orientierte Arbeitsunfallstatistik mit einbezogen werden.
War der Verunfallte gestresst durch Arbeit? Allgemein, in welchem Ausmaß, wodurch, zum Zeitpunkt des Unfalls, in welchem Ausmaß, wodurch?
Hier wird explizit auf Arbeitsstress abgehoben. Gefragt ist die subjektive Einschätzung des Mitarbeiters zur allgemeinen, aber auch unfallbegleitenden, akuten Stresssituation. Er kann hier auch detailliert die Ursachen seines Arbeitsstresses beschreiben; eine Information, die von Vorgesetzten und Arbeitspsychologen, aber auch für Betriebsärzten und Sicherheitsingenieuren für eine künftige Stressprävention genutzt werden kann.
Wie war die Arbeitsmotivation des Verunfallten? Geht der Verunfallte gern zur Arbeit? Wie war die Arbeitsmotivation gegenüber der Aufgabe, die zum Unfall geführt hat?
Eine Null-Bock-Einstellung in Bezug auf die Arbeit allgemein und auf die momentan auszuführende Tätigkeit im Besonderen begünstigt fahrlässiges und riskantes Arbeitsverhalten. Diese Frage ist für Vorgesetzte interessant, die ggf. durch Präventions- und Interventionsmaßnahmen die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter fördern können.
Wie beurteilt der Verunfallte sein Sicherheitsbewusstsein?
Auch hier werden die meisten Mitarbeiter ihr Sicherheitsbewusstsein hoch einschätzen. Meist kann der Interviewer jedoch aus der Unfallhergangsschilderung, der Aussage über getragene oder nichtgetragene PSA, oftmals sogar vom Auftreten des Mitarbeiters bei der Befragung zwar subjektive, aber trotzdem verwertbare Informationen ableiten.
Wie beurteilt der Verunfallte das Sicherheitsbewusstsein seines Arbeitsumfeldes?
Die Mitarbeiter werden zwar kaum das Sicherheitsbewusstsein ihrer Kollegen in Frage stellen, aber auch hier kann man nach der Auswertung der Arbeitsunfallberichte im Unternehmen Arbeitsunfallschwerpunkte in einzelnen Abteilungen bzw. Arbeitsgruppen feststellen, die dann ggf. mit der Aussage des Mitarbeiters in Beziehung gestellt werden können.
Wie beurteilt der Verunfallte die Ursache des Unfalls? Wie hätte der Unfall nach Ansicht des Verunfallten verhindert werden können?
Für Vorgesetzte und Arbeitsorganisationsverantwortliche ist diese eher subjektive Information interessant. Gerade die Frage nach einer möglichen Verhinderung des Unfalls wird vom Mitarbeiter mit seinem ganz spezifischen Expertenwissen in Bezug auf seinen Arbeitsplatz und der von ihm empfundenen Arbeitssituation geschildert.
Wo sieht der Verunfallte gesundheitliche Risiken am Arbeitsplatz?
Mit dieser Fragestellung sind durchaus nicht nur physiologische Arbeitserschwernisse sondern auch psychosomatische, psychosoziale Gesundheitsrisiken gemeint. Subjektiv kann hier der Verunfallte eine Einschätzung seiner gesundheitsbezogenen Arbeitssituation schildern. Betriebsärzte können diese Informationen nutzen, im Rahmen einer Gesamtunfallstatistik Aussagenhäufungen feststellen und ggf. Interventionsmaßnahmen einleiten.
Wird am Arbeitsplatz Alkohol getrunken?
Trotz ausdrücklichem und betriebsvereinbarungsgemäßen Alkoholverbot im Betrieb wurde im untersuchten Unternehmen sehr wohl und vor allem auf der Nachtschicht Alkohol konsumiert. Dass Alkoholkonsum sich erheblich auf die Unfallgefahr im Betrieb auswirkt ist hinlänglich bekannt; der Betriebsarzt kann hier entsprechende Präventions- und Interventionsmaßnahmen einleiten, den Kollegen Sicherheitsingenieur, aber auch Personalverantwortliche und letztlich die Unternehmensleitung entsprechend hinsichtlich dieser Thematik sensibilisieren.
Welche der Aspekte haben nach Meinung des Erhebungsbogenausfüllers zum Entstehen des Unfalls beigetragen?
Gefragt ist hier die zwar subjektive, vom Interview-Verhalten des Verunfallten geprägte, aber auch professionelle Einschätzung des (in Fragen des Arbeits- und Gesundheitsschutz ausgebildeten) Befragenden. Von Vorteil ist hier eine gewisse Distanz zum Unfallgeschehen und zum Befragten selbst.
Fazit
Der psychosozial orientierte Arbeitsunfallfragebogen ist ein wertvoller qualitativer Bestandteil der differenzierenden Arbeitsunfallstatistik. Zugegeben: Eine Befragung der verunfallten Mitarbeiter kostet Zeit, ein Umstand der jedoch nicht mehr ins Gewicht fällt, wenn an sich vor Augen führt, dass im von BOSSELMANN [1] untersuchten Unternehmen rund 80% der Arbeitsunfälle ursächlich stress- oder arbeitsorganisatorisch, also psychosozial bedingt waren.
Thomas Bosselmann
Literatur
1. Bosselmann, Th.: Untersuchung von Arbeitsunfällen der Automobilteile-Zulieferindustrie mit Hilfe einer parameteroptimierten und differenzierenden Unfallschwerpunktanalyse und betriebliche Erprobung eines psychosozialorientierten Unfallerhebungsbogens, Studie an der Bergischen Universität Wuppertal, 2000