Laut einer Studie der International SOS Foundation mit international tätigen Unternehmen führen lediglich ein Drittel der 628 befragten Unternehmen weltweit medizinische Voruntersuchungen oder Risikoanalysen durch, bevor ein Mitarbeiter ins Ausland entsendet wird. Wir haben Dr. Walter Eichendorf, Leiter des Geschäftsbereichs Prävention der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), und Dr. Stefan Eßer, Medical Director bei International SOS, gefragt, wie Unternehmen ihre Präventionsarbeit im Sinne der Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter weiter vorantreiben können.
Lieber Herr Dr. Eichendorf, lieber Herr Dr. Eßer, seit einiger Zeit kooperieren International SOS und die DGUV. Was ist der Hintergrund Ihrer Zusammenarbeit?
Eichendorf: International SOS und wir haben exakt dasselbe Ziel: Nämlich möglichst sichere und gesunde Arbeitsplätze zu schaffen. Für uns in der DGUV, die wir ja primär auf Deutschland ausgerichtet sind, hat die Zusammenarbeit mit International SOS einen hohen Mehrwert. Zum einen ist International SOS weltweit tätig, sodass wir viel von dem, was wir in Deutschland erarbeitet haben, auch global verbreiten können. Zum anderen bekommen wir durch die Partnerschaft mit International SOS viel Input durch die Erfahrungen, die das Unternehmen weltweit sammelt.
Eßer: Die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung ist für uns ein sehr wichtiger Partner. Unsere Arbeitsfelder ergänzen sich wunderbar. So konnten wir bereits gemeinsame Leitlinien für den Schutz von Mitarbeitern entwickeln, die unseren deutschen Kunden in der Praxis dabei helfen, Sicherheitsstandards im Unternehmen umzusetzen.
Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?
Eßer: Unsere enge Zusammenarbeit hat vor rund zwei Jahren begonnen, als Herr Dr. Eichendorf an einem Workshop der International SOS Foundation teilgenommen hat, bei dem wir gemeinsam die Globalen Empfehlungen (Global Framework) ausgearbeitet haben. Dabei handelt es sich um einen praxisnahen Leitfaden zur Sicherheit und Gesundheit auf arbeitsbedingten Auslandsreisen für Unternehmen, die Mitarbeiter ins Ausland entsenden oder auf Geschäftsreisen schicken. Aus diesem ersten Zusammentreffen entstand dann die konkrete Idee für eine neue Publikation, in der wir deutschen Unternehmen einen Überblick über die Rechte und Pflichten bei Auslandsentsendungen geben wollten. Die DGUV hat uns dabei mit ihrer Expertise stark unterstützt, denn wir haben das Thema vor allem aus arbeitsrechtlicher Sicht beleuchtet.
Eichendorf: Dieser arbeitsrechtliche Blickwinkel ist aus unserer Sicht besonders spannend, da wir immer wieder merken, dass sich die meisten Firmen eines ganz wichtigen Punktes nicht wirklich bewusst sind: Nämlich dass die Verantwortung, die sie für ihre Mitarbeiter am Arbeitsplatz in Deutschland haben, selbstverständlich auch weiter besteht, wenn jemand für zwei Tage auf Dienstreise geschickt wird.
Was umfasst diese Verantwortung genau? Können Sie dafür ein konkretes Beispiel nennen?
Eichendorf: Eine der klassischen Arbeitgeberpflichten nach dem Arbeitsschutzgesetz ist in diesem Zusammenhang beispielsweise eine Gefährdungsbeurteilung. Aber tatsächlich haben wir gemerkt, dass selbst manchen Personalverantwortlichen nicht klar ist, dass sie in diese Beurteilung auch Auslandsaufenthalte der Mitarbeiter einbeziehen müssen. Sobald sie sich dann genauer mit den Arbeitgeberpflichten auseinandersetzen, merken sie oft, dass essentielle Prozesse im Unternehmen nicht ausreichend implementiert sind. Und genau dann sind die praktischen Hinweise in den von Herrn Dr. Eßer erwähnten Globalen Empfehlungen extrem hilfreich. Darin ist zum Beispiel eine Checkliste enthalten, die man wunderbar für die Gefährdungsbeurteilung nutzen kann die Unternehmen sind davon begeistert.
Gibt es neben den Publikationen, die Sie gemeinsam veröffentlichen, auch regelmäßige gemeinsame Veranstaltungen?
Eichendorf: Ja, die gibt es. Wir haben bereits mehrere Veranstaltungen mit International SOS durchgeführt, um den Verantwortlichen aus Unternehmen auch im persönlichen Gespräch nachdrücklich klar zu machen, was es bedeutet, wenn sie regelmäßig Mitarbeiter ins Ausland schicken sei es für zwei, 20 oder 200 Tage.
Wie gestalten Sie diese Veranstaltungen genau?
Eßer: Zum einen versuchen wir, das Verantwortungsbewusstsein im Unternehmen zu schärfen. Wir zeigen den Anwesenden anhand unserer Erfahrungen und der Daten aus unserem Assistance Center in Frankfurt, welche Gesundheits- und Sicherheitsrisiken auf Geschäftsreisen am häufigsten bestehen, wie man damit umgehen kann und wie man sie bereits vor der Reise minimiert. Zum anderen binden wir unsere Kunden mit ein. Sie zeigen anhand konkreter Beispiele aus der Praxis, wie Unternehmen bereits erfolgreich Reiserisikomanagement implementiert haben. Das fördert den aktiven Austausch und die Diskussion der Veranstaltungsteilnehmer.
Welchen Herausforderungen sind Unternehmen bei der Umsetzung der Fürsorgepflicht Ihrer Erfahrung nach ausgesetzt?
Eßer: Die erste Herausforderung besteht für Unternehmen darin zu erkennen, dass die Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter auf Reisen Teil ihrer Verantwortlichkeit ist. Das heißt, Reiserichtlinien müssen definiert werden und zwar nicht nur nach dem Kriterium, welche Hotelkategorien oder Flugklassen zu wählen sind, sondern auch danach, was die möglichen Risiken einer Reise sind und wie ich mich als Mitarbeiter in Gefahrensituationen am besten verhalte. Dabei kann zum Beispiel helfen, Länder in Risikokategorien einzustufen. Anhand dieser Kategorien kann ich dann Präventionsmaßnahmen vor der Abreise und Sicherheitsmaßnahmen während einer Reise festlegen. Die Einstufung der Länder hilft, Fragen zu beantworten wie: Ist es bei dem Reiseziel notwendig, vorab eine arbeitsmedizinische Untersuchung durchzuführen? Benötigt der Mitarbeiter eine Sicherheitsschulung? Die Aufgabe von International SOS sehen wir vor allem darin, Unternehmen bei der Implementierung solcher Sicherheitsprozesse zu unterstützen.
Eichendorf: Mir ist ein Fall aus den letzten Wochen bekannt, bei dem es in einer indischen Stadt eine Terrorwarnung gegeben hat sowohl für das Hotel, in dem der deutsche Mitarbeiter auf Geschäftsreise übernachtet hat, als auch für den Flughafen, über den er wieder nach Deutschland fliegen wollte. Und von dieser Terrorwarnung hatte der Mitarbeiter erst vor Ort zufällig von indischen Kollegen erfahren, obwohl die Gefahr schon seit ein paar Tagen bekannt war. Das ist ein ganz klassischer Fall von unzureichender Vorbereitung auf den Auslandsaufenthalt. Dem Mitarbeiter ist zum Glück nichts passiert, aber er war einem unnötig hohen Risiko ausgesetzt. Hieran sieht man, wie wichtig es ist, im Unternehmen über ein funktionierendes Frühwarnsystem zu verfügen. Zudem macht der Fall deutlich: Es hat sich niemand wirklich für die Sicherheit des Mitarbeiters auf der Reise verantwortlich gefühlt. Daher plädieren wir immer für klar definierte Zuständigkeiten.
Wo sehen Sie in Sachen Arbeitsschutz von institutioneller Seite den größten Handlungsbedarf?
Eichendorf: Die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland erstrecken sich durchweg auch auf das Ausland. Das ist ganz klar ein großer Vorteil, den wir hierzulande haben. Es birgt jedoch auch eine Gefahr: Dieses System greift erst bei der Kompensation, das heißt dann, wenn schon etwas schief gegangen ist. Es greift jedoch nicht so automatisch, wenn es um die Prävention von gesundheitlichen oder sicherheitsbezogenen Risiken im Ausland geht. Es gibt hier also eine potentielle Sicherheitslücke, die nicht alle Unternehmen in Deutschland erfolgreich geschlossen haben. Das ist genau der Punkt, an dem Dienstleistungen an Bedeutung gewinnen, wie sie International SOS weltweit anbietet.
Herr Dr. Eßer, was sind denn die häufigsten Ursachen für gesundheitliche Zwischenfälle auf Geschäftsreisen?
Eßer: Die häufigsten gesundheitlichen Zwischenfälle auf Reisen sind zum einen Unfälle Arbeitsunfälle oder Verkehrsunfälle und zum anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In beiden Kategorien ist Prävention enorm wichtig. Beim Thema Arbeitsunfälle kann ich meine Mitarbeiter schulen, sodass sie beispielsweise umfassend mit den Sicherheitsstandards auf Baustellen vertraut sind. Und Herz-Kreislauf-Erkrankungen lassen sich zum Teil bereits durch medizinische Vorabchecks erkennen, sodass sie behandelt werden können. Wir haben herausgefunden, dass mehr als ein Drittel der medizinischen Notfälle auf Reisen mit der richtigen Prävention vermeidbar sind.
Viele Unternehmen fragen sich, ob sich die Präventionsarbeit für sie überhaupt lohnt. Was antworten sie denen, die noch skeptisch sind?
Eichendorf: Es gibt inzwischen eine ganz einfache Antwort und die heißt Return on Prevention. Es gibt dazu eine Studie der DGUV in Zusammenarbeit mit der Internationalen Vereinigung für soziale Sicherheit. Dabei haben wir 337 Unternehmen in 19 Ländern befragt, um eine Kosten-Nutzen-Analyse der Präventionsmaßnahmen aufzustellen. Das Ergebnis ist überzeugend: Für jeden Euro, den ich in die Sicherheit und Gesundheit stecke, habe ich ein betriebswirtschaftliches Ergebnis im Unternehmen von 2,20 Euro.
Eßer: Das deckt sich auch mit unseren Erkenntnissen. Auch die International SOS Foundation hat Kosten und Nutzen von Investitionen in den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz gegenübergestellt. Wir haben uns dabei ganz speziell den Bereich der Auslandsreisen angeschaut und auch unsere Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache: Der Return on Prevention liegt bei bis zu 2,50 Dollar je ausgegebenem Dollar. Abseits der rein wirtschaftlichen Sicht, gibt es noch eine Reihe anderer Faktoren, wegen derer sich präventives Risikomanagement lohnt: Zum einen kann sich ein Unternehmen im War for Talents als Arbeitgeber positionieren, der auf die Sicherheit und Gesundheit seiner Mitarbeiter auf Reisen besonderen Wert legt. Zum anderen ist der Reputationsschaden eines Auslandseinsatzes nicht zu unterschätzen, der aufgrund unzureichender Sicherheits- und Gesundheitsvorsorge beendet werden muss.
Sie leisten täglich Überzeugungsarbeit für mehr Präventionsbewusstsein in Unternehmen. Sehen Sie, dass bei den Unternehmen ein Umdenken stattfindet?
Eßer: Ja, auf jeden Fall. Wir sehen deutlich, dass die Idee der Prävention immer stärker wird. Die Anzahl der Geschäftsreisen nimmt jedes Jahr zu, sodass sich auch immer stärker ein Bewusstsein für die Verantwortung des Unternehmens entwickelt. Auch die Möglichkeiten der Prävention sowie der medizinischen Betreuung vor Ort sind für Geschäftsreisende gestiegen und werden stärker angenommen. Diese Entwicklung freut uns natürlich.
Eichendorf: Ich glaube ebenfalls, dass Unternehmen sehr viel bewusster mit dem Thema Prävention umgehen, weil sie die Notwendigkeit dahinter erkannt haben. Wir beobachten aber auch, dass es zunehmend Länder auf der Welt gibt, in denen sich die Sicherheitslage immer schwerer tagesaktuell abschätzen lässt. Wir werden also weiter in der Pflicht sein, das Thema Gesundheits- und Risikoprävention zu stärken und in Unternehmen voranzutreiben.
Interview: International SOS