Wenn ein Mitarbeiter für mehr als 30 Tage arbeitsunfähig ist, ist sein Arbeitgeber gesetzlich zum betrieblichen Eingliederungsmanagement verpflichtet. Dabei scheinen aufseiten der Arbeitgeber in kleinen und mittelständischen Unternehmen (KMU) erhebliche Informationsdefizite darüber zu bestehen, ob und wann die Krankenkassen, die Berufsgenossenschaften, die Deutsche Rentenversicherung oder die Bundesagentur für Arbeit eingeschaltet werden müssen. Häufig ließe sich der Prozess der nachlassenden Arbeitsfähigkeit durch präventive Maßnahmen bzw. die frühzeitige Einbeziehung der richtigen Akteure angefangen mit dem Arbeitsmediziner zeitlich erheblich verkürzen. Insgesamt sind Betriebsärzte bundesweit bisher nur in etwa 5 % der Betriebe verfügbar. In KMU greift das Unternehmermodell mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) Vorschrift 2, nach der Betriebsärzte anlassbezogen mit niedrigen Einsatzzeiten tätig werden. In dünn besiedelten Regionen kommt hinzu, dass Betriebsärzte nicht flächendeckend zur Verfügung stehen. Vor diesem Hintergrund soll das Forschungsprojekt dazu beitragen, dass KMU zukünftig ausreichend betriebsärztlich versorgt werden.
Das Projekt Gesund im Beruf (GIB) Prävention und Versorgung berufsbedingter Erkrankungen in KMU gehört zum Innovations-Inkubator der Leuphana Universität Lüneburg. Über den von 2009 bis 2015 laufenden Innovations-Inkubator sollen neue wirtschaftliche Schwerpunkte in der Konvergenzregion im Norden Niedersachsens geschaffen werden. Hierzu werden eine Vielzahl ineinandergreifender Maßnahmen in den Bereichen digitale Medien, nachhaltige Energieversorgung und Gesundheit umgesetzt. Der Kerngedanke liegt dabei in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Unternehmen aus der Region.
Zwei regionale Wirtschaftspartner, die über umfassende Erfahrungen im Bereich der beruflichen Rehabilitation verfügen, werden bei der Entwicklung eines integrierten Versorgungsangebots, bestehend aus betrieblicher Gesundheitsförderung, Prävention und betrieblichem Eingliederungsmanagement, wissenschaftlich begleitet. Konkret werden regionale Serviceeinheiten aufgebaut, in denen zunächst über die Schwerpunkte Haut- sowie Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) Angebote für KMU in der Region präsentiert werden. In dem anfänglich offerierten Portfolio spiegelt sich die Einbeziehung der betriebsärztlichen Expertise wider, entsprechend sind die Serviceeinheiten als Bindeglied und Ergänzungsleistung zu bestehenden arbeitsmedizinischen Tätigkeiten zu sehen. Das Angebot umfasst zurzeit telefonische Information und Aufklärung sowie Beratung in den Betrieben zu Prävention. In diesem Zusammenhang können konkrete Interventionsangebote und Dienstleistungen vermittelt werden. Die GIB-Center bieten Schulungen für Primärprävention mit Multiplikatoren in den Betrieben an. Daneben können die Risikofaktoren berufsbedingter Erkrankungen ermittelt und die Präventionsmaßnahmen entsprechend angepasst werden. Neben den Leistungen zur Prävention vermitteln die GIB-Center betriebliches Eingliederungsmanagement und steuern berufsbedingte Rehabilitationsfälle. Ein Alleinstellungsmerkmal ist das teledermatologische Screening-Verfahren. Hauterkrankungen können hiermit in den Betrieben frühzeitig dokumentiert und über ein standardisiertes Verfahren online von Dermatologen oder Arbeitsmedizinern ausgewertet werden. Anschließend werden die Ergebnisse wieder online zur Verfügung gestellt und Handlungsempfehlungen ausgesprochen.
Die GIB-Center sind als zentrale Einheit konzipiert, welche die Unternehmen in Bezug auf gesundheitliche Fragen informiert und begleitet. Unter Einbeziehung der betriebsärztlichen Expertise in die Behandlungsabläufe sollen sie an der Schnittstelle zwischen den Betrieben auf der einen und den Sozialversicherungsträgern, Berufsförderungswerken, Kammern und Innungen auf der anderen Seite wirken.
Damit die Angebote passend und nachhaltig sind, wird die Entwicklung der Serviceeinheiten durch das Forschungsprojekt wissenschaftlich begleitet. In einer gesundheitsökonomischen Evaluation wird die Wirksamkeit von Schulungen zunächst am Beispiel der Hautprävention bewertet. Dabei fokussiert die Studie auf die fünf Risikobranchen für Hauterkrankungen, Friseurwesen, Floristik/Gärtnerei, Metallverarbeitung, KFZ und Pflege. In weiteren quantitativen Analysen werden mittels Fragebögen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu drei Messzeitpunkten u. a. die Belastungen und Arbeitsschutzmaßnahmen im Betrieb, die Einstellung zu Prävention, die Prävalenz von Erkrankungen und deren wirtschaftliche Auswirkungen, die Personalfluktuation sowie das gesundheitliche Wohlbefinden und die Arbeitszufriedenheit ermittelt. Eine Conjoint-Analyse soll schließlich die Zahlungsbereitschaft von KMU für Angebote der GIB-Center testen.
Mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung werden förderliche und hinderliche Bedingungen zur Umsetzung von Präventionsmaßnahmen in den Betrieben untersucht. Uns interessiert insbesondere die Frage, wie präventives Verhalten in den Betrieben zur Routine werden kann. Hierzu werden Einzel- und Gruppen-Interviews mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern sowie Vertretern der Berufsgenossenschaften, Berufsverbänden und Betriebsärzten geführt. Die so gewonnenen Daten werden durch teilnehmende Beobachtungen in den Betrieben zur tatsächlich praktizierten Prävention ergänzt. Über die Beobachtungen erhalten wir auch einen Zugang zu impliziten Regeln und informellen Aspekten in den Betrieben, die zu den in den Interviews gemachten Aussagen im Widerspruch stehen können.
Daneben begleitet die Forschungseinheit die Entwicklung und Durchführung von Schulungen für die Prävention von Muskel-Skelett-Erkrankungen (MSE) in einigen Pilotbetrieben. Hierbei werden die Interessen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer schon im Entwicklungsprozess aktiv mit einbezogen.
Mit unserem Forschungsprojekt, das im September 2014 ausläuft, möchten wir dazu beitragen, eine betriebliche Gesundheitsversorgung aufzubauen, die an die Strukturen von KMU anschlussfähig ist. Wir sehen in der Verbindung von Prävention und betrieblichem Eingliederungsmanagement einen vielversprechenden Weg, um die bestehende Versorgungslücke zu schließen. Die arbeitsmedizinischen Dienste können zukünftig über die GIB-Center als Schnittstelle der integrierten Versorgung ihre Aktivitäten ausweiten.