Durch Absentismus und Präsentismus verursachte Produktivitätsverluste entstehen heute in der deutschen Wirtschaft Kosten in Milliardenhöhe. Und das mit steigender Tendenz.
Zunehmende Arbeitsverdichtung, die Dynamisierung von Veränderungsprozessen, die Globalisierung des Wettbewerbs und nicht zuletzt die demographische Entwicklung machen bezüglich der dieser Produktivitätsverluste eine Trendwende eher unwahrscheinlich. Umso wichtiger wird es deshalb für Unternehmen, den Auswirkungen dieser Randbedingungen entgegenzuwirken bzw. diese abzuschwächen.
Das haben deutsche Unternehmen inzwischen auch erkannt. So zeigt eine Studie von Roland Berger Strategy Consultants, dass 80% der deutschen Unternehmen die Vorteile eines Betrieblichen Gesundheitsmanagements (BGM) sehen, aber nur 36% davon entsprechende Maßnahmen bereits umsetzen bzw. damit begonnen haben. Und, in Bezug auf diese 36%, muss auch die Frage gestellt werden, welcher Anteil davon gesundheitsfördernde Maßnahmen wirklich in Form eines Managementsystems mit einem nachhaltigen, im Ergebnis messbaren Verbesserungsprozess betreibt.
Dabei steht heute unbestritten fest, dass Investitionen in sinnvolle Gesundheitsförderprogramme sich für die Unternehmen rechnen, und negativen Auswirkungen von Präsentismus, mangelndem Engagement und mangelnder Loyalität, entgegengewirkt werden kann.
Die Praxis zeigt, dass in den Unternehmen häufig nicht die Frage Ob? sondern die Frage Wie? im Vordergrund steht und die Unternehmen davon abhält, Entscheidungen zu treffen. Der unsaubere Umgang mit Begrifflichkeiten wie Gesundheitsförderung und betrieblichem Gesundheitsmanagement sowie die Überflutung des Marktes mit Zertifikaten und Awards für betriebliches Gesundheitsmanagement, Gesundheitsförderung oder gesunde Unternehmen, die für ihren Erhalt oft ganz unterschiedliche Kriterien zugrunde legen, tragen mit Sicherheit nicht dazu bei, den Unternehmern die Entscheidungsfindung leichter zu machen, sondern führt im Gegenteil eher zu einer gesteigerten Verunsicherung bei den Unternehmen.
In einer Befragung der BAD GmbH, an der Organisationen des öffentlichen Bereiches sowie Unternehmen aller Branchen und unterschiedlichster Größe teilgenommen haben, wurde deshalb untersucht, inwieweit Interesse an einer Standardisierung und Zertifizierung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagementsystems besteht: Bei einer Rücklaufquote von 11% (n = 94) befürworteten 98,9% der antwortenden Unternehmen ein solches Zertifizierungsverfahren.
Für die BAD GmbH ein klares Signal, hier die Initiative zu ergreifen. Die Idee, eine Zertifizierung für Betriebliches Gesundheitsmanagement zu entwickeln, stieß im Fachbeirat 3 (Gesundheit) der DAkkS (Deutsche Akkreditierungsstelle GmbH) auf durchweg positive Resonanz. Allerdings wurde seitens des Fachbeirates 6 (Managementsysteme) der DAkkS darauf hingewiesen, dass bei Akkreditierungsverfahren für Managementsysteme üblicherweise eine Norm bzw. eine Spezifikation zugrunde gelegt wird (Beispiel: DIN EN ISO 9001). Vor dem zweiten musste deshalb noch ein erster Schritt getan werden. Aus diesem Grund stellte die BAD GmbH beim DIN (Deutsches Institut für Normung e.V.) einen Antrag, ein normatives Dokument nach den Verfahrensregeln des DIN zu erarbeiten. In der Koordinierungsstelle Managementsystemnormung des DIN (KoSMaS) wurde deshalb Ende Mai 2011 der Beschluss gefasst, eine Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die im Rahmen eines PAS-Verfahrens eine Spezifikation (DIN SPEC) für das Betriebliche Gesundheitsmanagement entwickelt. Nach der Veröffentlichung des Geschäftsplanes für dieses Projekt und der Aufforderung an interessierte Institutionen, sich an der Arbeitsgruppe zu beteiligen, fand Ende September 2011 das Kick-off Meeting statt.
20 Institutionen aus den Bereichen Wissenschaft, Unfallkassen, Gewerbeaufsicht, Zertifizierer, Krankenkassen, Normung und Dienstleistung hatten ihr Interesse bekundet und waren bereit, in der Arbeitsgruppe mitzuarbeiten. Auch Fachverbände, wie der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte (VDBW) oder der Verband Deutscher Sicherheitsingenieure (VDSI), begrüßten die Initiative und sicherten uns ihre Unterstützung zu.
Welche Anforderungen stellte der Arbeitskreis an die zu erarbeitende Spezifikation?
· Eine solche Spezifikation soll branchenübergreifend und Unternehmensgrößen-unabhängig anwendbar sein.
· Sie soll problemlos in andere Managementsysteme integrierbar sein.
· Sie soll durch klare Begriffsdefinitionen dazu beitragen, ein einheitliches Verständnis dafür zu schaffen, was unter einem betrieblichen Gesundheitsmanagementsystem zu verstehen ist.
· Sie soll die Grundlage für ein auf einer Akkreditierung gemäß DIN EN ISO 17021 beruhendem Zertifizierungsverfahren sein.
Es gibt nicht das Betriebliche Gesundheitsmanagementsystem oder den Standard für ein Betriebliches Gesundheitsmanagementsystem. Ein solches System muss sich immer an den unternehmens- bzw. betriebsspezifischen Belangen orientieren und darauf abgestimmt sein. Wie ein Qualitätsmanagementsystem, das die jeweiligen oftmals sehr unterschiedlichen Produkte oder Dienstleistungen und die hierfür erforderlichen Prozesse eines Unternehmens bzw. Betriebes betrachtet, so muss auch ein Betriebliches Gesundheitsmanagementsystem die ganz spezifischen Anforderungen eines Unternehmens/Betriebes oder Teile desselben berücksichtigen. Aber: es gibt gewisse Mindestanforderungen, die erfüllt sein müssen, damit man von einem Managementsystem sprechen kann. Diese Grundanforderungen galt es in der DIN SPEC 91020 festzulegen, und zwar so, dass sie branchenübergreifend realisierbar sind und bei Unternehmen unterschiedlicher Größe angewendet werden können.
Die unternehmens- bzw. betriebsspezifischen Details gilt es dann, in einem auf das jeweilige Unternehmen bzw. den Betrieb zugeschnittenen Managementsystem-Handbuch zu regeln.
Die Möglichkeit der Kombination oder Integration in andere, eventuell in den Unternehmen/Betrieben schon vorhandene Managementsysteme war eine weitere zentrale Forderung an die Arbeitsgruppe. Seitens der KoSMaS im DIN wurde der Arbeitsgruppe empfohlen, sich im Hinblick auf die Struktur der DIN SPEC 91020 an dem damals noch im Entwurf befindlichen ISO Guide 83 zu orientieren. Dieses Dokument, das noch während der Erarbeitungsphase der DIN SPEC 91020 vom Lenkungsausschuss der Internationalen Normungsinstitution angenommen wurde, gibt zukünftig für alle Managementsysteme eine einheitliche Struktur vor, um die Integration verschiedener Managementsysteme zu vereinfachen. Das bedeutet, dass auch eine DIN EN ISO 9001 oder DIN EN ISO 14001 sich bei ihrer nächsten Überarbeitung der neuen Struktur stellen müssen.
Durch das Zugrundelegen des ISO Guide 83 für die Struktur der DIN SPEC 91020 ist somit sichergestellt, dass Unternehmen / Betriebe z.B. im Zusammenhang mit einer Zertifizierung, der ein Akkreditierungsverfahren gemäß DIN EN ISO 17021 zugrunde liegt, einfacher ein Integriertes Managementsystem aufbauen können, d.h. die normativen Vorgaben zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement einfacher in bestehende Managementsysteme und die entsprechenden Handbücher integrieren können.
Darüber hinaus sollte der Inhalt der DIN SPEC 91020 sowohl als Grundlage für ein isoliertes Betriebliches Gesundheitsmanagementsystem herangezogen werden können, z.B. in einem Unternehmen / Betrieb, das weder über eine DIN EN ISO 9001, OHSAS 18001 oder DIN EN ISO 14001 verfügt, als auch als Ergänzung zu bereits vorhandenen einzelnen oder aber auch Integrierten Managementsystemen anwendbar sein.
Die Arbeitsgruppe sah es als weitere zentrale Aufgabe, klarzustellen, was unter einem Betrieblichen Gesundheitsmanagementsystem zu verstehen ist. D.h. es war nicht nur darzustellen, welche Anforderungen erfüllt sein sollten, damit man von einem Betrieblichen Gesundheitsmanagement sprechen kann, sondern auch deutlich zu machen, wo und wie es sich gegenüber anderen Begrifflichkeiten, Managementsystemen oder aber gesetzlich geregelten Vorgaben aus dem Bereich des Arbeitsschutzes abgrenzt.
Im Gegensatz zur betrieblichen Gesundheitsförderung, die auf das Individuum ausgerichtet ist, hat ein Betriebliches Gesundheitsmanagement die Organisation als Zielobjekt. Das wird auch aus den folgenden Anforderungen ersichtlich:
Betriebliches Gesundheitsmanagement
· hat die Organisation im Fokus
· legt strategische Ziele fest
· ist datengetrieben und evidenzbasiert
· ist langfristig angelegt und auf Nachhaltigkeit ausgerichtet
· hat einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess als Grundlage
· heißt, eine ganzheitliche und systemische Sicht zu realisieren
· bedeutet, Gesundheit als Organisationsleistung zu entwickeln
· ist nicht nur gefahren- und gefährdungsorientiert, sondern stellt eine salutogene Perspektive in den Vordergrund.
Auch die Zuspitzung der Frage Arbeitsschutzmanagementsystem oder Betriebliches Gesundheitsmanagementsystem ist so nicht richtig. Hier geht es nicht um ein entweder oder. Beide bauen letztlich auf dem gesetzlich geregelten Arbeitsschutz auf. Während Arbeitsschutzmanagementsysteme aber vor allem die Minimierung arbeitsplatzbezogener Sicherheitsrisiken betrachten, thematisiert ein Betriebliches Gesundheitsmanagement die Förderung allgemeiner Gesundheitsfaktoren und zwar über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehend. Ein Betriebliches Gesundheitsmanagement beschränkt sich dabei nicht nur auf die rein unternehmens- bzw. betriebsinternen Einflüsse, die die Gesundheit der Beschäftigten belasten können. Ziel ist es vielmehr, die Gesundheit ganzheitlich zu erhalten ohne Unterscheidung, ob negative Einflüsse auf diese primär im privaten oder beruflichen Kontext begründet sind. Auswirkungen von Hemmnissen oder Einbußen sind nämlich auf jeden Fall unternehmens- bzw. betriebsintern zu spüren. Ziel der Unternehmen, die ein solches System betreiben, ist also, die Beschäftigten gesund zu erhalten bzw. deren Gesundheit zu fördern, unabhängig von der Quelle der Belastungen.
Nachdem man sich im Hinblick auf die zu erfüllenden Grundanforderungen an eine solche DIN SPEC einig war, wurden zunächst vier bereits existierende normative Vorschläge (BAD GmbH, SCOHS, TÜV Nord, DQS) zur Errichtung und zum Betreiben eines Betrieblichen Gesundheitsmanagementsystems unter Berücksichtigung der Strukturvorgaben durch den ISO Guide 83 inhaltlich zusammengeführt. Dafür waren nach dem Kick-off Meeting Ende September 2011 vier weitere Sitzungen der Arbeitsgruppe sowie etliche weitere Sitzungen von Unterarbeitsgruppen notwendig, bis Ende Februar 2012 ein konsensfähiger Entwurf verabschiedet werden konnte.
Nach Lektorat durch das DIN und Druck durch den Beuth Verlag konnte die DIN SPEC 91020 am 3. Juli 2012 der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Zwischenzeitlich wurden erste Akkreditierungsanträge von Zertifizierern bei der DAkkS eingereicht, es gibt von verschiedenen Anbietern Web-Seminare, um sich mit den Inhalten der DIN SPEC 91020 vertraut zu machen, es werden Qualifizierungskurse für Auditoren angeboten, erste Begutachtungen von BGM-Systemen unter Zugrundelegung der DIN SPEC 91020 finden statt und es sind intensive Diskussionen über den Sinn und die Notwendigkeit einer solchen Spezifikation für Betriebliche Gesundheitsmanagementsysteme entstanden.
Zur Etablierung eines Betrieblichen Gesundheitsmanagementsystems mit dem Ziel, dieses auch gemäß DIN SPEC 91020 zertifizieren zu lassen, kann beispielsweise, wie in der folgenden Abbildung vorgeschlagen, vorgegangen werden.
Festzuhalten bleibt: das ursprüngliche Interesse an einem solchen Verfahren ging nicht von den Zertifizierern aus, für die ein solches Verfahren sicherlich ein zusätzliches Geschäft sein kann, sondern von Unternehmen aus der Wirtschaft und Einrichtungen der öffentlichen Hand.
Festzuhalten bleibt ferner: durch die seitens des DIN breit angelegte Information und die Aufforderung zur Teilnahme an der Arbeitsgruppe zur Erarbeitung der DIN SPEC gab es eine für solche Arbeitsgruppen außergewöhnlich hohe Resonanz und Bereitschaft unterschiedlichster Institutionen, an der Erarbeitung mitzuwirken. Im Ergebnis konnte so ein breites Spektrum von Ansichten und Interessen berücksichtigt werden.
Nicht zuletzt sei darauf hingewiesen, dass es Bestandteil des DIN SPEC(PAS)-Verfahrens und im Rahmen eines solchen wurde die DIN SPEC 91020 erarbeitet ist, die Spezifikation nach drei Jahren zu überprüfen, so dass die bei der Anwendung gemachten Erfahrungen dann in eine Überarbeitung einfließen können.