Gewalt am Arbeitsplatz

Thank you for travelling with Deutsche Bahn

Verspätungen, Zugausfälle und kaputte Klimaanlagen: Jeder, der öfter mit dem Zug fährt, kennt die Probleme, die das Reisen mit der Bahn zu einem eher unangenehmen Erlebnis machen. Doch was ist mit den Personen, die den Zug nicht nur nutzen, um damit von A nach B zu kommen, sondern ihren kompletten Arbeitsalltag hier verbringen? Im siebten Teil der Reihe „Psychische Belastungen am Arbeitsplatz“ soll auf die oben genannten Aspekte und auf weitere psychische Belastungen eingegangen werden, denen Lokführer und Zugbegleitpersonal tagtäglich ausgesetzt sind. Parallel dazu werden auch mögliche präventive und intervenierende Maßnahmen im Bereich von Eisenbahngesellschaften angesprochen, um Beanspruchungen vorzubeugen beziehungsweise richtig mit ihnen umzugehen.

Die Deutsche Bahn ist die größte Eisenbahngesellschaft in Deutschland. Neben ihr gibt es noch einige kleinere Gesellschaften, die regional begrenzte Gebiete mit Nahverkehrszügen abdecken, sowie einzelne Züge, die spezielle Strecken bedienen. Da die Deutsche Bahn außerdem zu den größten Arbeitgebern Deutschlands gehört, sollen in diesem Artikel die psychischen Belastungen, die auf Lokführer und Zugbegleiter einwirken, speziell am Beispiel dieser Eisenbahngesellschaft aufgezeigt werden. Eine Übertragung der Erkenntnisse und Ergebnisse auch auf andere Eisenbahngesellschaften dürfte in weiten Teilen aber möglich sein, ebenso wie Schlussfolgerungen hinsichtlich Belastungen von Personen, die im Bereich ÖP(N)V mit anderen Verkehrsmitteln wie zum Beispiel Bussen, Straßen- oder U-Bahnen unterwegs sind.

Laut einer Mitarbeiterbefragung, die die Deutsche Bahn 2014 weltweit intern durchführen ließ, lag die Mitarbeiterzufriedenheit mit 3,7 von 5 Punkten auf einem tendenziell höheren Niveau. Dieser auf den ersten Blick „gute“ Wert sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es interindividuell verschieden wahrgenommene und verarbeitete psychische Belastungen und Beanspruchungen am Arbeitsplatz Eisenbahn geben kann. Neben Verspätungen und Zugausfällen und den damit verbundenen Konsequenzen (für Fahrgäste und Personal) sind Lokführer und Zugbegleitpersonal – zumeist unabhängig von den sie beschäftigenden Gesellschaften – einer Reihe von anderen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Im Einzelnen sind hier unter anderem zu nennen:

  • Zu wenig Mitarbeiter (2015 lag die Personalbedarfsdeckungsquote der DB bei 97,3 Prozent)
  • Demografischer Wandel (und damit stetig alternde Belegschaft)
  • Überfüllte Züge ohne eigene Rückzugsräume
  • Ungeplante Überstunden
  • Auswärtige Übernachtungen
  • Dauernd wechselnde Schichtpläne
  • Störungen des Biorhythmus
  • Probleme im sozialen Umfeld durch auswärtige Übernachtungen,Überstunden usw.
  • Fahrkartenkontrollen, die in der Regel allein durchgeführt werden
  • Übermäßige Hitze, wenn bei hohen Außentemperaturen die Klimaanlage ausfällt
  • Extreme Kälte, wenn Heizungen
    defekt sind

Mehr tätliche Übergriffe

Die Belastungen für Lokführer und Zugbegleiter, die sich aus diesen ungünstigen Arbeitsbedingungen und Umgebungsfaktoren ergeben, werden durch unzufriedene und verärgerte Zugreisende noch verstärkt. Zudem kommt es auch immer häufiger zu Übergriffen. 2015 geschahen circa 1.800 solcher Taten, was einen Anstieg um 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutete. Im ersten Halbjahr 2016 hat sich die Zahl der Übergriffe noch einmal um 28 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum auf 1.100 Taten gesteigert. Meistens richten sie sich gegen das Sicherheitspersonal am Bahnhof (circa 60 Prozent der Taten), jedoch ist auch das Zugbegleitpersonal immer häufiger betroffen. In der Regel kommt es dabei nicht zu ernsten Verletzungen, sondern eher zu Aggressionen oder spontanen Angriffen, die juristisch als einfache Körperverletzung gelten. Oft ereignen sich solche Übergriffe beim Durchsetzen des Hausrechts oder der Fahrkartenkontrolle.

Eine weitere psychische Belastung, die besonders Lokführer betrifft, sind Unfälle durch in Bewegung befindliche Eisenbahnfahrzeuge sowie sogenannte Schienensuizide (siehe Kasten „Unfälle bei der Deutschen Bahn“, Seite 25).

Ein prominentes Beispiel für einen Schienensuizid ist der deutsche Profifußballer Robert Enke, der sich 2009 an einem Bahnübergang im niedersächsischen Neustadt am Rübenberge das Leben nahm. Sein Tod war in den Medien ein großes Thema. Die schwerwiegenden Folgen solcher Unfälle oder Suizide besonders für den Lokführer, aber auch für das Zugbegleitpersonal, werden
jedoch nicht nur in diesem Fall kaum
thematisiert. Nicht selten leiden die
Betroffenen danach an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, die im schlimmsten Fall auch zu einer Berufsunfähigkeit führen kann (siehe Kasten „Posttraumatische Belastungsstörung“ auf der nächsten Seite).

Um die psychischen Belastungen am Arbeitsplatz Schienenverkehr zu veranschaulichen, erzählt im Fallbeispiel ein typischer Zugbegleiter, der im Nahverkehr Kundenbetreuer heißt, von den Vorfällen bei seiner vorangegangenen Schicht als Fahrkartenkontrolleur im
RE5 (Koblenz – Köln – Emmerich), einer Strecke, auf der es immer wieder zu Verspätungen kommt. Außerdem berichtet ein (fiktiver) Lokführer, wie er in der Nähe von Hamburg einen Menschen überfahren hat und was dies für Auswirkungen auf sein Leben hatte. Auch dieses Mal wird das beschriebene Geschehen und Erleben durch einen Experten kommentiert und es werden Hinweise zu Ansätzen der Prävention und Intervention in Bezug auf die psychische Belastung am Arbeitsplatz gegeben.

Kundenbetreuer: „Ich hatte gestern die letzte Schicht. Der Zug fährt montags immer um 20:16 Uhr in Koblenz los und soll laut Plan um 23:28 Uhr in Emmerich ankommen. Diesmal hatten wir aufgrund einer Störung in der Oberleitung eine Verspätung von einer Stunde. Eigentlich wollte ich am Abend noch mit dem Auto von Emmerich zu meiner Familie nach Krefeld fahren. Da aber am nächsten Tag meine Schicht wieder in Emmerich begann, schaffte ich dies nicht mehr und übernachtete in Emmerich. Meine Frau war davon wenig begeistert, denn es war nicht das erste Mal, dass ich aufgrund einer Verspätung oder spontan geänderten Schichtplänen nicht nach Hause kommen konnte.“
Experte: „Lokführer und Zugbegleiter berichten oft über Probleme im sozialen Umfeld, da sie durch auswärtige Übernachtungen, Überstunden und unvorhergesehene Schichtänderungen nur selten Zeit mit Freunden und Familie verbringen können. Das stellt für die Bahnmitarbeiter natürlich eine enorme psychische Belastung dar. Auf der einen Seite wirken sich ein Streit zu Hause oder Probleme mit Freunden negativ auf das psychische Wohlbefinden aus. Auf der anderen Seite können aber auch Belastungen aus anderer Quelle ohne den Rückhalt aus dem sozialen Umfeld gravierende Folgen haben. Hinzu kommt, dass unvorhergesehene Abweichungen im Tagesablauf und die häufige Überschreitung der geplanten Arbeitszeit alleine bereits psychische Beanspruchungen darstellen können. Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) kämpft schon seit längerem dafür, dass Überstunden nicht wie bisher einfach ausbezahlt werden, sondern die Mitarbeiter sich stattdessen dafür freinehmen können. Zur Verringerung psychischer Belastungen am Arbeitsplatz ist dies sicherlich eine sinnvolle Forderung, da die freie Zeit zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung eines guten sozialen Umfelds genutzt werden kann.“

Lokführer: „Auch für uns Lokführer sind spontane Schichtwechsel keine Seltenheit. An jenem Tag hatte ich die Fahrt im IC von Westerland (Sylt) nach Stuttgart Hauptbahnhof für einen Kollegen, der spontan erkrankt war, übernommen.
Ich war diese Strecke schon oft ohne
Probleme gefahren, weshalb die Schichtänderung für mich keine große Schwierigkeit darstellte. Doch bei dieser Fahrt passierte etwas Unvorhergesehenes: Zwischen Hamburg-Harburg und Bremen Hbf. sah ich von weitem, wie eine junge Frau auf die Schienen trat. Sofort leitete ich die Notbremsung ein, doch ich wusste, dass bei dieser Geschwindigkeit der Zug nicht mehr rechtzeitig zum Stehen kommen würde. Ich konnte also nichts anderes tun, als in meinem Führerstand zu stehen und der Frau vor mir auf den Gleisen in die Augen zu schauen. Den Blick, kurz bevor mein Zug sie erfasste, werde ich nie vergessen.
Experte: „Von so einer oder einer ähnlichen Situation kann fast jeder Lokführer berichten, denn Schienensuizide passieren häufiger, als man vielleicht annimmt (siehe Kasten S. 31). Welche schwerwiegenden Folgen dies für den jeweiligen Lokführer haben kann, ist in der Bevölkerung oft nicht präsent. Dabei schätzt man, dass gut ein Drittel der betroffenen Lokführer beziehungsweise Zugbegleiter nach einem Schienensuizid oder einem Unfall mit Personenschaden ohne anschließende Betreuung eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln würde. Das liegt vor allem an den besonderen Umständen dieses traumatischen Ereignisses. Besonders Faktoren wie die Verwischung von Täter- und Opferrolle und die Hilflosigkeit der Lokführer wirken sich dabei ungünstig aus. Denn wie auch in dem hier berichteten Fall kommt es oft vor, dass die Lokführer die Person auf den Gleisen sehen, die Notbremsung einleiten, aber wissen, dass es nicht reichen wird. In diesen wenigen Sekunden sind sie völlig hilflos, da sie alles in ihrer Macht stehende getan haben und sie trotzdem gleich einen Menschen überfahren werden.

Ebenso ist es bei einem solchen Ereignis nicht so klar wie bei anderen traumatischen Ereignissen (zum Beispiel einer Vergewaltigung), wer die Opfer- und wer die Täterrolle belegt. Bei einem Unfall ist natürlich zuerst einmal der Mensch, der durch den Zug verletzt oder getötet wurde, als Opfer zu nennen. Der Lokführer hingegen ist zwar auch Opfer, da er den Unfall nicht hat verhindern können, jedoch ist er ebenfalls Täter. Bei einem Schienensuizid ist das Ganze noch etwas komplexer. Denn hier ist die Person auf den Schienen nicht nur Opfer, sondern gleichzeitig auch Täter, da sie sich eigenständig entschieden hat, Selbstmord zu begehen. Der Lokführer aber wurde durch diese Entscheidung unfreiwillig zum Täter gemacht und ist aus diesem Grund gleichzeitig Opfer. Bei der Verarbeitung dieses Ereignisses ist dieser Umstand für den Lokführer äußerst problematisch. Denn selbst, wenn er objektiv keine Möglichkeit gehabt hat den Menschen zu retten, besteht die Gefahr, dass er den Moment immer wieder durchlebt und sich fragt, ob er es nicht doch hätte verhindern können, zum Beispiel wenn er aufmerksamer gewesen wäre.“

Kundenbetreuer: „Auch ich habe vor kurzem einen Schienensuizid miterleben müssen. Natürlich sind in so einem Fall in erster Linie die Lokführer betroffen, aber auch für das Personal im Zug ist es eine extreme Situation. Gerne hätte ich mich danach für ein paar Minuten zurückgezogen, um mich zu beruhigen und den Vorfall zu verarbeiten. Doch der Zug war an diesem Tag sehr voll und Räume, in denen man für kurze Zeit allein sein kann, gibt es in den Zügen meistens nicht.“

Experte: „Der Umstand der fehlenden Rückzugsräume für Bahnmitarbeiter ist allgemein ein wichtiges Thema. Ob nach Schienensuiziden, dem Kontakt mit verärgerten Zugreisenden, einem Streit mit Kollegen oder auch nur, um kurz mit der Familie zu telefonieren – ein Ort, an dem man zur Ruhe kommen oder einen Moment allein sein kann, wäre oft angebracht. Denn Zugbegleiter sind neben Fahrkartenkontrolleuren auch Servicemitarbeiter, die den Reisenden immer freundlich begegnen sollen, unabhängig von der eigenen Stimmung. Wenn ein Zugbegleiter jedoch ein emotional aufwühlendes Ereignis erlebt hat, keinen geeigneten Rückzugsort findet und deshalb sofort in weiteren Kundenkontakt tritt, muss er das Erlebte verdrängen, um den Zugreisenden weiterhin angemessen gegenüber treten zu können. Das ständige Unterdrücken der eigenen Emotionen kann dabei eine enorme psychische Belastung darstellen und sich auch negativ auf die Arbeitszufriedenheit auswirken.“

Lokführer: „Nachdem ich damals die Frau überfahren hatte, war ich zuerst quasi allein am Unfallort. Ich musste selbstständig die Strecke absperren und die Leitstelle, sowie Rettungsdienste informieren. Ich habe versucht, die Leiche der jungen Frau zu ignorieren. Dann wurde ich abgelöst, ein Kollege übernahm den Zug und ich wurde von einer Psychologin betreut. Den Rest des Tages verbrachte ich zu Hause. Für die Zeit nach dem Ereignis konnte ich mir freinehmen, bis ich mich wieder bereit fühlte, zu arbeiten. Die Einzelgespräche bei einem Therapeuten, die mir von meinem Arbeitgeber angeboten wurden, habe ich dankbar angenommen. Es war mein erster Suizid gewesen und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Die Sitzungen haben mir dabei sehr geholfen. Nach fünf Wochen habe ich mich dann wieder in den Führerstand getraut. Zuerst habe ich nur einen Kollegen bei seinen Schichten begleitet, ein paar Tage später bin ich aber auch wieder alleine gefahren. Jedoch schaffen es nicht alle, nach einem Suizid ihre Tätigkeit als Lokführer wieder aufzunehmen. Ich selbst fahre seit diesem Vorfall vorsichtiger, aber ich weiß auch von Kollegen, die das schreckliche Ereignis nie richtig verarbeitet haben und seither nie wieder als Lokführer tätig waren.“

Experte: „Im Fall eines Unfalls mit Personenschaden oder eines Schienensuizids ist eine gute Nachsorge entscheidend. Natürlich ist es auch wichtig, angehendes Zugpersonal und besonders Lokführer schon in der Ausbildung und durch spätere Fortbildungen präventiv auf einen solchen Fall vorzubereiten. Trotzdem ist es weder möglich Schienensuizide komplett zu verhindern, noch die Lokführer komplett gegen die psychische Belastung zu immunisieren. Die Umstände und Konsequenzen eines solchen Falls sind im Vorfeld nicht abzuschätzen, wodurch ein gutes Betreuungsprogramm bei Eintreten solcher Ereignisse unumgänglich ist. Das strukturierte Betreuungssystem der Deutschen Bahn beispielsweise stellt mit Prävention (in Form von Aus- und Fortbildung), Maßnahmen in der Akutsituation und in der Nachsorge und Unterstützung bei der Wiedereingliederung am Arbeitsplatz bereits ein gutes Konzept dar. Allerdings liegt es auch in der Verantwortung eines jeden Lokführers, diese Hilfe entsprechend anzunehmen und sich darüber hinaus Beistand aus dem sozialen Umfeld zu holen.

Früher galt es als männlich, nach einem Schienenunfall oder -suizid einfach weiterzufahren. Heute weiß man, dass dies die falsche Strategie ist. Denn wer die Hilfe annimmt, sich Unterstützung sucht und einige Zeit von der Arbeit pausiert, ist nicht labil oder unmännlich, sondern handelt vorausschauend und schützt die eigene psychische Gesundheit. Erfahrungsgemäß erhöhen Verdrängung des Ereignisses und keine ausreichende Betreuung danach das Risiko für die Entwicklung einer PTBS und damit das Risiko einer Berufsunfähigkeit. Mit einer guten Nachsorge jedoch gelingt vielen der Wiedereinstieg als Lokführer und nur etwa zehn Prozent der Betroffenen entwickeln trotz allem eine PTBS. Dieser Personenkreis kann auf eine andere Tätigkeit innerhalb der Deutschen Bahn umschulen und nur im schlimmsten Fall kommt es zur kompletten Berufsunfähigkeit.“

Kundenbetreuer: „Neben Schienenunglücken kommt es auch im Zug immer wieder zu unangenehmen Vorfällen, besonders während der Fahrkartenkontrolle – so auch gestern wieder. Am späteren Abend stieß ich auf meinem Weg durch den Zug auf eine Gruppe junger Männer, die leicht angetrunken waren. Nachdem ich sie aufgefordert hatte, mir ihre Fahrkarten zu zeigen, fingen sie an, mich zu beschimpfen und mir zu drohen. Nachdem ich noch einmal vergebens um die Fahrkarten gebeten hatte, verließ
ich das Abteil – ohne die Personalien aufgenommen zu haben und begleitet von weiteren Drohungen. Einerseits ärgerte ich mich über meine Feigheit, andererseits war ich sehr froh, dass es bei den Beleidigungen geblieben war. Kollegen von mir haben nämlich schon von Körperverletzungen berichtet und auch ich habe einmal eine Ohrfeige von einem Reisenden bekommen.“

Experte: „Die steigende Zahl der Übergriffe ist ein großes Problem im öffentlichen Personenverkehr. Die Mehrheit der Angriffe richtet sich gegen Sicherheitspersonal an Bahnhöfen, aber auch Zugbegleiter sind leider immer häufiger betroffen. Meistens bleibt es, wie im vorliegenden Fall, bei verbalen Aggressionen, aber auch leichte Körperverletzungen sind keine Seltenheit mehr. Zu ernsteren Verletzungen kommt es jedoch zum Glück nur vereinzelt. Die Deutsche Bahn beispielsweise gibt nach eigenen Angaben jährlich 160 Mio. Euro für Sicherheit aus. Die Mitarbeiter werden mit Pfefferspray und teilweise mit Schutzhunden sowie Alarmgeräten ausgestattet. Außerdem startete 2016 ein Pilotprojekt mit Bodycams an einigen Bahnhöfen. Das Sicherheitspersonal dort wurde mit kleinen Kameras ausgestattet, die jedoch nicht dauerhaft filmen, sondern nur, wenn der jeweilige Mitarbeiter der Meinung ist, dass es in diesem Augenblick sinnvoll wäre.
Neben der Bildaufzeichnung sieht der „Angreifer“ sich selbst über einen Bildschirm, was zusätzlich deeskalierend wirken soll. Die aufgezeichneten Daten dürfen nur von der Bundespolizei ausgewertet werden.

Die Anschaffung der Bodycams für diverse Mitarbeiter bei der Deutschen Bahn ist natürlich teuer, jedoch hat die Polizei auf Länderebene bereits positive Erfahrungen damit gesammelt. Wenn im Pilotprojekt der Bahn ebenfalls weniger Angriffe auf das Sicherheitspersonal verzeichnet werden, könnten die Bodycams bald an allen Bahnhöfen eingesetzt werden. Vielleicht ist es in Zukunft auch möglich, diese Technik ebenfalls für das Zugbegleitpersonal zur Verfügung zu stellen.“

Kundenbetreuer: „Ich denke, die Situation gestern ist hauptsächlich aufgrund der Verspätung an diesem Abend eskaliert. Während der Fahrkartenkontrolle bin ich auf mehrere verärgerte Reisende gestoßen, die, wie ich auch, endlich nach Hause wollten. Doch die meisten hatten zum Glück Verständnis dafür, dass ich an der Situation auch nichts ändern konnte. Die Gruppe junger Männer hingegen macht mich dafür verantwortlich, dass sie zu spät kämen und schimpften, dass es ein Unding wäre, für so eine Verspätung auch noch Geld zahlen zu müssen.“

Lokführer: „Auch wir Lokführer können gegen Verspätungen und Verzögerungen im Betriebsablauf oft nichts machen. Nicht selten kommt es vor, dass man in einem Bahnhof länger warten muss oder auf freier Strecke zum Stehen kommt. Das kann vielfältige Gründe haben, beispielsweise weil man aufgrund technischer Störungen keine Erlaubnis zur Weiterfahrt bekommt. Wenn man einen Nahverkehrszug steuert, kommt es außerdem immer wieder vor, dass man einen schnelleren, eventuell sogar verspäteten Fernverkehrszug passieren lassen muss. Leider ist es auch nicht immer möglich, die so entstandene Verspätung auf dem Rest der Strecke wieder rauszufahren, sodass die Reisenden unpünktlich an den Bahnhöfen ankommen und manchmal ihre Anschlusszüge verpassen.“

Experte: „Eine wichtige Quelle für den Ärger der Reisenden sind Verspätungen und Zugausfälle. An diesem Punkt könnte man ansetzen, um die DB-Mitarbeiter nicht nur auf der verhaltenspräventiven Ebene gegen solche Übergriffe zu schulen, sondern auch verhältnispräventiv diesen Risikofaktor für psychische Belastung zu verringern. Wenn man diese Ursache beseitigt, wären die Zugpassagiere zufriedener und es ist denkbar, dass dadurch die Anzahl der Übergriffe reduziert wird. Einen perfekten Fahrplan zu konstruieren ist jedoch schwer, da dabei viele Dinge berücksichtig werden müssen. Ein Teil davon ist im Vorfeld planbar wie Besonderheiten von Bahnhöfen und unterschiedliche Geschwindigkeiten der Züge. Andere Ursachen für Verspätungen sind jedoch nicht oder nur bedingt vorhersehbar, zum Beispiel Baustellen, technische Störungen oder Polizeieinsätze. Oft passiert es auch, dass die Verspätung eines Zuges weitere Verspätungen auf dieser oder auf anderen Strecken verursacht. Um dies zu verhindern und damit einen potenziellen Risikofaktor für aggressives Verhalten zu unterbinden, wären Zeitpuffer und zusätzliche Ersatzzüge nötig.
Dies wäre jedoch wiederum sehr kostspielig.“

Kundenbetreuer: „Es war auch nicht das erste Mal, dass ich auf diese Weise verbal angegriffen wurde. Doch weil ich ein eher schmächtiger Mann bin und die Fahrkartenkontrollen zudem immer allein durchgeführt werden, weiß ich nie so recht, wie ich mich gegen solche Übergriffe, gerade von Gruppen, wehren soll. Bis jetzt haben auch andere Reisende nie Anstalten gemacht, mir zu helfen, wenn ich beschimpft wurde – meistens saßen sie sowieso ein Stück entfernt. Als ich gestern Abend das Abteil verließ, riefen die Männer mir noch hinterher, sie wüssten, wie ich heiße. Das macht mir schon immer ein bisschen Angst.“

Experte: „In der Vergangenheit gab es Anregungen, dass Zugbegleiter keine Namensschilder, sondern nur noch Nummer tragen sollten. Dies wurde aber bis jetzt abgelehnt und auch aus psychologischer Sicht ist es fraglich, ob diese Maßnahme wirklich präventiv gegen Übergriffe und die damit verbundene psychische Belastung wirken würde. Zielführender erscheint dagegen die Forderung einiger Gewerkschaften nach einer Doppelbesetzung bei der Fahrkartenkontrolle auf schwierigen Strecken. Neben diesen strukturellen Maßnahmen ist es aber auch wichtig zu sehen, dass jeder einzelne Zugbegleiter selbst etwas für seine Sicherheit und damit für den Schutz seiner psychischen Gesundheit machen kann.

Die Deutsche Bahn bietet für ihre Mitarbeiter Deeskalationstrainings und Stressseminare an, in denen es darum geht, Gefahrensituationen zu erkennen, präventiv zu handeln oder sie zu entschärfen. Um in so einer Situation, wie
sie im Fallbeispiel beschrieben wurde, deeskalierend zu wirken, ist es essenziell, dass der Zugbegleiter sich nicht einschüchtern und in eine Opferrolle drängen lässt. Er sollte deutlich zeigen, dass das vom Angreifer gezeigte Verhalten inakzeptabel ist und dabei Selbstbewusstsein ausstrahlen. Dies erreicht er beispielsweise durch eine laute und deutliche Sprache. Außerdem ist es wesentlich für eine Entschärfung der Situation, dass der Zugbegleiter ruhig bleibt und nicht selbst beginnt, den Angreifer zu beleidigen oder ihn zu bedrohen. Folgenschwer könnte es hingegen sein, Körperkontakt mit der aggressiven Person herstellen zu wollen (zum Beispiel beruhigend die Hand auf die Schulter zu legen). Eine solche Handlung könnte als Überschreitung einer persönlichen Grenze gewertet werden, was wiederum zu weiteren Aggressionen führen könnte. Helfen kann es jedoch, den Angreifer direkt anzusprechen und Blickkontakt zu halten. Pfeffersprays sollten nur im Notfall verwendet werden, da hierdurch die Situation weiter eskalieren könnte. Außerdem besteht die Gefahr, dass das Spray gegen den Zugbegleiter selbst gerichtet wird. Wenn die Situation zu gefährlich werden sollte und keiner der anderen Fahrgäste eingreift, hilft es auch, andere direkt anzusprechen und sie gezielt um Hilfe zu bitten (zum Beispiel „Sie in der roten Jacke, helfen Sie mir.“). Andernfalls kann es leicht zur Verantwortungsdiffusion kommen („Ich bin nicht schuld, die anderen hätten ja auch helfen können.“), oder die Reisenden helfen aus Angst vor Blamage nicht („Wenn niemand hilft, wird es nicht so schlimm sein und ich werde komisch angeschaut, wenn ich jetzt eingreife.“).

Um sich gezielter auf solche Übergriffe vorzubereiten, sollten die Zugbegleiter das Angebot der Deeskalationstrainings annehmen und gegebenenfalls auch aus eigenem Antrieb einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Außerdem ist es wichtig, sich nach einem Übergriff Unterstützung zu suchen und angebotene Hilfe auch anzunehmen, zum Beispiel in Form von Gesprächsrunden, die von der Deutschen Bahn zum Austausch unter Betroffenen organisiert werden. Im Endeffekt ist es nämlich nicht nur wichtig zu wissen, wie man Übergriffe verhindert, sondern besonders auch zu lernen, wie man vergangene negative Ereignisse bewältigen kann. Denn die Verdrängung des Ereignisses und die erhöhte Angst vor einem erneuten Übergriff verursachen eine psychische Mehrbelastung im Berufsalltag.“

Kundenbetreuer: „Doch auch ohne Zwischenfälle dieser Art ist die Arbeit im Zug nicht immer leicht. Im vergangenen Sommer ist beispielsweise während einiger Schichten die Klimaanlage ausgefallen, wodurch die Kontrollgänge durch den Zug auch körperlich sehr anstrengend wurden. Aber nicht nur mir und meinen Kollegen machte die enorme Hitze zu schaffen. Auch die Zugreisenden waren an diesen Tagen sehr verärgert, was meine Arbeit zusätzlich erschwerte.“

Experte: „Dies ist ein Problem, was auch in der Bevölkerung durchaus bekannt ist. Die Deutsche Bahn stand in den vergangenen Jahren mehrfach wegen ausfallender Klimaanlagen im Sommer und defekten Heizungen im Winter in der Kritik. Für die Bahnmitarbeiter stellen diese unzureichenden klimatischen Bedingungen eine besondere psychische und physische Belastung dar, die weitreichende Konsequenzen für das allgemeine Wohlbefinden und auch für die Leistungsfähigkeit haben kann. Denn sie müssen trotz dieser technischen Probleme ihre Schichten einhalten und können den Zug nicht einfach verlassen. Gerade bei zu großer Hitze ist die routinierte Fahrkartenkontrolle mit deutlich mehr Anstrengung verbunden, da eine zu hohe Temperatur zu Konzentrationsschwierigkeiten und Schläfrigkeit sowie zu einer gereizteren Stimmung führt. Dies hat eine erhöhte Stressempfindlichkeit zur Folge, durch die auch mit anderen Belastungen schlechter umgegangen werden kann. Außerdem fällt es den Zugbegleitern unter diesen Bedingungen oft schwer, weiterhin freundlich mit den Reisenden zu interagieren, was wiederum zu noch größerer Unzufriedenheit bei den Zugreisenden führen könnte, als es durch die bestehende Hitze ohnehin schon der Fall ist.

Doch auch zu niedrige Temperaturen können negative Auswirkungen speziell auf die physische Gesundheit haben, da es gehäuft zu Erkältungen und anderen Erkrankungen kommt. Dies kann ebenfalls auf psychischer Ebene sowohl für den betroffenen Mitarbeiter als auch für seine Kollegen belastend wirken. Letztere müssen nämlich den krankheitsbedingten Ausfall durch Schichtwechsel und Überstunden auffangen.“

Abschließend lässt sich sagen, dass Lokführer und Zugbegleitpersonal einer Reihe psychischer, aber auch physischer Belastungen ausgesetzt sind. Zum einen gibt es situative Belastungsfaktoren (ausfallende Klimaanlagen/Heizungen, überfüllte Züge, Verspätungen usw.), die den Arbeitsalltag erschweren. Hinzu kommen Gegebenheiten, die sich nicht nur auf die Arbeit im Zug auswirken, sondern auch negative Konsequenzen für die Qualität des sozialen Umfelds der Mitarbeiter haben (ungeplante auswärtige Übernachtungen, Überstunden, plötzliche Schichtwechsel usw.). Zusätzlich zu diesen regelmäßigen und andauernden Belastungen kommt es in unregelmäßigen Abständen zu sehr starken und nicht vorhersehbaren Ereignissen, die verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der Lokführer und Zugbegleiter haben können (Übergriffe, Unfälle, Schienensuizide usw.). Vor allem die immer häufigeren Übergriffe gegen das Zugbegleitpersonal werden zu einem immer größeren Problem.

Es gibt also verschiedene Punkte, an denen man ansetzen kann, um die Belastung für die Mitarbeiter im Zug zu verringern beziehungsweise idealerweise komplett auszuschalten. Auf der einen Seite sind dies verhältnispräventive Maßnahmen, für die primär die Deutsche Bahn verantwortlich ist. Wenn man die technische Ausstattung verbessern und regelmäßig kontrollieren würde, käme es seltener zu defekten Heizungen und Klimaanlagen sowie technischen Störungen am Zug und den Gleisen. Weiterhin könnten mehr Mitarbeiter und Züge eingesetzt werden, um überfüllte Züge zu vermeiden. Durch mehr Personal fielen auch weniger Überstunden an und Lokführer und Zugbegleiter hätten mehr Freizeit beziehungsweise könnten ihre Überstunden in Freizeit umwandeln, anstatt sie ausbezahlt zu bekommen. So käme es nicht nur zu weniger belastenden Problemen im sozialen Umfeld; zusätzlich würde das Ganze sogar zu gestärkten sozialen Ressourcen führen, die im Falle von Belastungen aus anderen Quellen protektiv wirken könnten. Durch mehr Züge und weniger Störungen bei der Technik würden auch einige Ursachen für Verspätungen und Zugausfälle bekämpft werden. Weniger Verspätung würde wiederum eine geringere Belastung für die Mitarbeiter bedeuten, da so die Zugreisenden zufriedener wären. Da man Übergriffe sowie Schienenunfälle und -suizide jedoch nicht komplett verhindern kann, sollte man hier auch auf verhaltenspräventive Maßnahmen setzen, bei denen auch die DB-Mitarbeiter eine Eigenverantwortung tragen. Besonders bei Übergriffen ist eine gute Vorbereitung wichtig, während bei Schienensuiziden die Betreuung danach entscheidend ist. Ein besonderes Augenmerk sollte hierbei auf die Schulung der deeskalativen Kompetenzen jedes einzelnen Mitarbeiters gelegt werden. Doch vor allem ist es bei diesen schwerwiegenden Erlebnissen sehr wichtig, dass Lokführer und Zugbegleitpersonal sich sowohl für Prävention als auch für die Nachsorge Unterstützung suchen und die angebotene Hilfe annehmen. Denn nur so ist es möglich, die damit verbundene psychische Belastung möglichst gering zu halten.


Die Deutsche Bahn

Die Deutsche Bahn AG hat derzeit über 300.000 Beschäftigte, von denen fast 200.000 in Deutschland angestellt sind. 2015 reisten knapp 2,3 Mrd. Menschen mit der Bahn (davon zwei Milliarden innerhalb Deutschlands). Täglich nutzen 6,2 Mio. Reisende den Personentransport der Deutschen Bahn und jeden Tag fahren über 24.000 Züge, um die Menschen zu ihren Zielorten zu bringen. Ein großes Ärgernis für alle Reisenden ist die Unpünktlichkeit der Züge, besonders wenn hierdurch Anschlusszüge nicht mehr erreicht werden. Laut DB-Angaben waren im Jahr 2015 94,2 Prozent der Züge von DB Regio, aber nur 74,4 Prozent der Züge des DB Fernverkehrs pünktlich.


Unfälle bei der Deutschen Bahn

Das Eisenbahn-Bundesamt meldet für das Jahr 2014 182 Unfälle mit Personenschaden (68 Schwerverletzte, 118 Getötete), verursacht durch ein in Bewegung befindliches Eisenbahnfahrzeug. Hinzu kommen 781 Schienensuizide.

Im Schnitt kommt es in Deutschland zu gut zwei Fällen pro Tag und im Laufe seines Berufslebens muss jeder Lokführer statistisch gesehen damit rechnen, Zeuge von zwei bis drei Suiziden zu werden, wobei dies auch von den jeweils befahrenen Strecken abhängt.

So kann es vorkommen, dass ein Lokführer, dessen Strecke beispielsweise an einer Psychiatrie vorbeiführt, mehr als zehn Suizide oder Suizidversuche in seinem Berufsleben miterlebt, während ein anderer vielleicht Glück hat und nie einen Menschen überfährt.


Posttraumatische Belastungsstörung

Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann als mögliche Folgereaktion auf ein oder mehrere traumatische Ereignisse (Situationen mit außergewöhn-
licher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß) ausgebildet werden.
Charakteristisch ist das ungewollte Wiedererleben von Aspekten des Traumas (zum Beispiel in Form von Albträumen und aufdrängenden Bildern, sogenannten Flashbacks) auch noch Monate und Jahre nach dem Ereignis. Diese Flashbacks sind mit starken physischen und emotionalen Reaktionen verbunden und eine PTBS wird von den Betroffenen als extrem belastend wahrgenommen. Folgen können unter anderem sozialer Rückzug, Abschottung, intensive Angst, Ärger, emotionale Taubheit, Schlafstörungen, erhöhte Reizbarkeit und Vermeidung traumarelevanter Reize sein, wodurch die Betroffenen oft stark in ihrem bisherigen Leben eingeschränkt werden. Die Lebenszeitprävalenz in Deutschland, also der Anteil der Bürger, die im Laufe ihres Lebens eine PTBS entwickeln, liegt zwischen ein und zehn Prozent. Nicht nach jedem traumatischen Ereignis wird eine PTBS ausgebildet. Ob es zu einer Ausbildung dieser Störung kommt, hängt stark von der Situation an sich sowie spezifischen Personenvariablen ab.


Autoren:

Dr. Stefan Poppelreuter,

Leiter Bereich
Corporate & HR
Development

TÜV Rheinland
Akademie GmbH

E-Mail:
stefan.poppelreuter@de.tuv.com

Helena Lügering

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