Psyche und Arbeit

Präventionsmöglichkeiten in interaktiven Dienstleistungstätigkeiten

Zusammenfassung Die Mehrheit der Erwerbstätigen verrichtet Dienstleistungen, ein großer Anteil Humandienstleistungen. Ausgehend von einigen konzeptionellen Aspekten der Prävention im Humandienstleistungssektor wird erörtert, ob der internationale Standard zu Merkmalen gut gestalteter Arbeitssysteme (DIN EN ISO 6385) als Richtlinie für Präventionsmaßnahmen in diesem Sektor ausreicht. Erforderliche Ergänzungen betreffen illegitime Arbeitsaufgaben, die Personalausstattung als Quelle ungenügender psychosozialer Zuwendung zu Klienten, sowie Betreuungsangebote der Organisationen für das Personal bei ungenügender Reziprozität der psychosozialen Zuwendung. Bei den Forderungen an die Arbeitsaufgaben sind Modifikationen erforderlich, insbesondere bei der Aufgabenvollständigkeit, dem Tätigkeitsspielraum und dem Informationsmanagement. Eine prinzipielle Frage ist, ob im Standard auch die Voraussetzungen individueller Arbeitsstrategien, welche die Beanspruchung mitbestimmen, berücksichtigt werden sollten. Schlüsselwörter

· Prävention

· Humandienstleistungen

· Psychische Belastung

· Prevention

· Human service tasks

· stress

In Deutschland sind etwa 75% der arbeitenden Bevölkerung im Dienstleistungsbereich beschäftigt. Hinzu kommt, dass insbesondere im Humandienstleistungssektor ein dringender Bedarf an Prävention psychosozialer Beanspruchungen existiert. Das gilt besonders für Tätigkeiten in der Kranken- und Altenpflege, für Lehrtätigkeiten sowie therapeutische Berufe.

1 Welche theoretischen Aspekte sollten bei der Prävention auch im Humandienstleistungsbereich berücksichtigt werden?
1. Ein häufig diskutiertes Problem bei der Stressprävention ist die Unterscheidung zwischen Arbeitsanforderungen wie sie tatsächlich beschaffen sind und wahrgenommenen Arbeitsanforderungen1, 2. Bekanntlich bestehen häufig zwischen den tatsächlichen Arbeitsanforderungen und den ausgesagten Arbeitsbeanspruchungen nur schwache oder gänzlich fehlende Beziehungen, während substanzielle Beziehungen bestehen zwischen den wahrgenommenen Arbeitsanforderungen und den ausgesagten Beanspruchungen. Erforderlich sind sowohl bedingungsbezogene als auch personenbezogene Maßnahmen, also Verhältnis- und Verhaltensprävention.

2. In interaktiven Arbeitstätigkeiten sind Gefühle bedeutsam, sowohl als Arbeitsgegenstände, als auch als Arbeitsmittel3, 4. Dabei ist die Unterscheidung wichtig zwischen einer Emotionsregulation, die auf die Entstehungsbedingungen von künftigen Emotionen zielt (durch objektive Gestaltungsmaßnahmen oder durch Umbewertungsstrategien von Arbeitsaufgaben) und einer Emotionsregulation bezogen auf bereits entstandene Emotionen im Sinne ihrer Unterdrückung und möglicherweise sogar des Vorspiegelns anderer Emotionen. Die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Formen von Emotionsregulation sind äußerst unterschiedlich5: Die auf Entstehungsbedingungen zielenden Maßnahmen des Emotionsmanagement als präventive Strategien eliminieren die Quellen möglicher emotionaler Erschöpfung. Für eine Emotionsregulation, die sich lediglich auf bereits vorliegende Emotionen bezieht, gilt das nicht. Sie kann emotionale Dissonanz und zusätzliche psychophysische Aufwände im Unterdrücken und Vorspiegeln von Gefühlsregungen zur Folge haben als potentiellen Vorläufern einer emotionalen Erschöpfung, einem Bestandteil des Burnout.

Diese Unterscheidung zwischen emotionsbezogenen Gestaltungsmaßnahmen, die sich auf die Entstehungsbedingungen von Gefühlen im Unterschied zu bereits vorliegenden Gefühlen beziehen, ist deshalb von großer Bedeutung, weil im Arbeitsschutzgesetz die Priorität der Verhältnisprävention vor der Verhaltensprävention gefordert ist. Das sollte auch für das Emotionsmanagement gelten.

3. Des Weiteren sind begriffliche Differenzierungen im Zusammenhang mit der Stressprävention auch im Humandienstleistungsbereich erforderlich, weil es nicht nur einen Typ von Beanspruchungen gibt und auch nicht nur einen Typ von Humandienstleistungstätigkeiten.

Bekanntlich führen unterschiedliche Arten von psychophysischen Belastungen zu unterschiedlichen Arten von Beanspruchungen, beispielsweise zu psychischer Ermüdung im Unterschied zur Sättigung oder zu erlebter Monotonie oder zu emotionaler Erschöpfung. Diese verschiedenen Auswirkungen benötigen verschiedene – möglicherweise einander sogar widersprechende – Präventionsmaßnahmen6.

Folglich ist nicht nur eine Maßnahme zur Stressprävention erforderlich, unabhängig davon welche Art von Auswirkungen vorliegt.

Analog existiert eine Vielfalt unterschiedlicher Arten von Humandienstleistungstätigkeiten.

Personenverändernde Humandienstleistungstätigkeiten mit der Notwendigkeit der Koproduktion der Klienten, beispielsweise in der Pflege, müssen unterschieden werden von lediglich personenbezogenen Humandienstleistungen, die immer stärker zugunsten von Selbstbedienung zurückgedrängt werden, beispielsweise Verkaufstätigkeiten.

4. Außerhalb des Labors ist Stressprävention nicht als eine isolierte zusätzliche Maßnahme möglich. Vielmehr ist eine erfolgreiche Stressprävention im tatsächlichen Arbeitsprozess nur realisierbar als eine integrative Komponente ganzheitlicher technologischer und organisationaler Entwicklungsprozesse, die Lernen in der Tätigkeit und Gesundheit fördern oder auch beeinträchtigen können.

5. Die Prävention von Fehlbeanspruchungen durch Arbeitsgestaltung erfordert ein ganzes System von Gestaltungsaspekten. Das sind die Aspekte der Ausführbarkeit der Tätigkeiten, ihrer Schädigungslosigkeit, ihrer Beeinträchtigungsfreiheit und darüber hinausgehend ihrer Lern- und Gesundheitsförderlichkeit.

Prävention von Fehlbeanspruchungen muss sich mit allen diesen Gestaltungsaspekten beschäftigen. Allein das Vermeiden von bleibenden Gesundheitsschäden oder von psychosozialen Beeinträchtigungen reicht nicht aus, sondern muss weitergeführt werden bis zu einer lern- und gesundheitsförderlichen Arbeitsgestaltung im Interesse der Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit von Arbeitenden. Die hohe Arbeitsplatzunsicherheit insbesondere im Dienstleistungsbereich muss durch das Sichern von Beschäftigungsfähigkeit kompensiert werden.

6. Schließlich ist im Zusammenhang mit dem zunehmenden Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse und von Arbeitslosigkeit im Dienstleistungsbereich der Einfluss des Arbeitsmarkts auf die Wahrnehmung der Arbeitsanforderungen stärker als bisher zu berücksichtigen. Demzufolge sind aufgabenbezogene Präventionsmöglichkeiten von beruflichen Fehlbeanspruchungen allein nicht ausreichend. Die Wahrnehmung der Aufgabenmerkmale ist deutlich bestimmt auch durch die Arbeitsmarktsituation7. Deshalb gehört zur Prävention von Fehlbeanspruchungen im Dienstleistungssektor hinausgehend über das Sichern der Beschäftigungsfähigkeit durch eine diesbezügliche Arbeitsgestaltung idealerweise auch das Erhalten von Arbeitsplätzen.

In jüngster Zeit scheint die Frage nach Präventionsmöglichkeiten von Fehlbeanspruchungen auch im Dienstleistungsbereich leicht zu beantworten zu sein. Der ISO-Standard 6385 zu „Ergonomischen Prinzipien für die Gestaltung von Arbeitssystemen“ gibt umfassende Hinweise auf die Beschaffenheit gut gestalteter Arbeitsaufgaben.

2.1 Anforderungen des ISO-Standards
Die hauptsächlichen Anforderungen dieses und verwandter internationaler Standards sind psychologisch begründet und daher gut bekannt. Sie betreffen insbesondere die Ganzheitlichkeit von Arbeitstätigkeiten, Anforderungsvielfalt, die Sinnhaftigkeit, das Nutzen der vorhandenen Qualifikationen, die Möglichkeit zum eigenständigen Entscheiden und Zielstellen, nutzbare Rückmeldungen sowie die Möglichkeit zum Hinzulernen in einer sozial nicht-isolierten Arbeitstätigkeit.

Verstöße gegen Muster dieser Anforderungen werden als potentielle Risikofaktoren für das Entstehen von Fehlbeanspruchungen – als psychische Ermüdung, als erlebte Monotonie, Sättigung, Ängstigung und emotionaler Erschöpfung – verstanden.

Allerdings scheinen einige Zweifel an der Eignung dieses Standards als endgültiger Leitfaden zur Prävention von Fehlbeanspruchungen in interaktiven Arbeitstätigkeiten angebracht8, 9.

2.2 Fehlende kontextbezogene, potentielle Risikofaktoren
Als Erstes ist in den internationalen Standards eine Reihe potentieller Risikofaktoren, die in Humandienstleistungen eine besondere Bedeutung haben können, nicht angesprochen. Diese Sachverhalte müssten also im Interesse der Prävention von Fehlbeanspruchungen in Dienstleistungstätigkeiten ergänzt werden:

2.2.1 Illegitime Arbeitsaufgaben
Semmer und seine Arbeitsgruppe haben die Konzeption der soziokulturellen Legitimität von Arbeitsaufgaben entwickelt10, 11: Illegitime Arbeitsaufgaben sind danach solche Aufgaben, die von den Ausführenden entweder als überflüssig oder unzumutbar aufgefasst werden. In Humandienstleistungen gibt es mehrere Arten solcher gesellschaftlich, kulturell und ethisch nicht akzeptablen Arbeitsaufgaben, die durch Unternehmen oder Vorgesetzte den Arbeitnehmern übertragen werden. Beispiele dafür sind der Verkauf von dubiosen Finanzprodukten an ahnungslose Käufer, die Festlegung von Bußgeldern, die Polizisten einzunehmen haben oder teure, aber überflüssige ärztliche Eingriffe.

Sofern diese profitbezogenen Aufgaben ethischen Überzeugungen von Beschäftigten widersprechen, dürften Konflikte zwischen mitmenschlicher Solidarität und wirtschaftlicher Profitorientierung entstehen. Ethische Konflikte sind aber bekanntlich besonders wirkungsvolle Risikofaktoren.

Zur Prävention von psychosozialen Fehlbeanspruchungen in Humandienstleistungen müsste mithin als Erstes das Vermeiden von potentiell illegitimen Arbeitsaufgaben gehören.

2.2.2 Personalausstattung und Zeitdruck
Bekanntlich ist der Personalmangel die häufigste Ursache für Zeitdruck. Semmer (1984) oder Greif, Bamberg und Semmer (1991) haben Zeitdruck beschrieben als überzogene Tempoanforderungen, die zu unvollständiger Aufgabenausführung, zu Auslassung des Prüfens eigener Tätigkeitsresultate, zu unzureichenden oder gänzlich fehlenden Erholungspausen, zur Verschlechterung der Leistungsqualität sowie der Sicherheit der Beschäftigten und der Klienten führen können12, 13.

Darüber hinaus entstehen bekanntlich bei Zeitdruck psychophysische Regulationserschwernisse und Hyperaktivität, die durch muskuläre Verspannung begleitet sein können14.

Im Humandienstleistungsbereich gibt es keine generell verbindlichen Festlegungen über die minimale Personalausstattung, beispielsweise über das zahlenmäßige Verhältnis zwischen Pflegekräften und Patienten oder zwischen Lehrern und Schülern. Damit ist eine verbreitete Personalausstattungsstrategie die kontinuierliche Reduktion der Personalbesetzung solange, bis die zusätzlichen Kosten durch Zwischenfälle oder Beschwerden von Klienten die eingesparten Personalkosten deutlich übersteigen.

Deshalb gehört zur Prävention von Fehlbeanspruchungen im Dienstleistungsbereich eine psychologisch fundierte Methodik zur Abschätzung der erforderlichen Personalausstattung, die auch psychosoziale Aspekte der Interaktion mit den vielfältigen Arten von Klienten berücksichtigt. Wir haben eine partizipative Methode für diesen Zweck entwickelt und erprobt15.

Die Prävention von Fehlbeanspruchungen im Dienstleistungssektor sollte also Unterbesetzungen, die zu Zeitdruck sowie zu Beeinträchtigungen der Servicequalität führen, beispielsweise zu unzureichender psychosozialer Betreuung in der Pflege oder zu exzessiven Selbstbedienungsanforderungen an die wachsende Mehrheit der Senioren, vorbeugen.

2.2.3 Stellvertretende psychosoziale Betreuungspflichten der Organisationen
Im Humandienstleistungssektor besteht häufig eine Kluft in der Reziprozität der psychosozialen Zuwendung von Dienstleistern und Klienten. Vereinfacht: Die Beschäftigten nehmen Mängel in der Zuwendung und Dankbarkeit ihrer Klienten wahr. In solchen Fällen müssten die Unternehmen Kompensationen für die fehlende Reziprozität in der sozialen Zuwendung anbieten, um eine mögliche emotionale Erschöpfung bei ihren Beschäftigten zu vermeiden.

Die Prävention von Fehlbeanspruchungen im Humandienstleistungsbereich sollte also organisationale Vorkehrungen zur Kompensation fehlender Reziprozität in der psychosozialen Zuwendung, beispielsweise durch Supervisionsvorkehrungen oder durch Falldiskussionen im Rahmen der regulären Arbeitsbesprechungen, anbieten.

Wenigstens diese drei kontextbedingten Risikofaktoren, die spezifisch sind für den Dienstleistungsbereich, fehlen in den erwähnten internationalen Standards.

Darüber hinaus dürften aber auch solche Arbeitsmerkmale, die in den internationalen Standards ausführlich behandelt sind, Modifikationen im Hinblick auf Anforderungen im Humandienstleistungsbereich benötigen:

2.3.1 Gibt es spezifische Aufgabenmerkmale interaktiver Tätigkeiten – ein Beispiel
Anhand eines Beispiels aus der Pflege soll zunächst geklärt werden, ob es in interaktiven Arbeitstätigkeiten spezifische Tätigkeitsmerkmale gibt, die hinausgehend über die in den internationalen Standards erfassten Merkmale möglicherweise zusätzlich beachtet werden sollten16.

Die Abbildung 1 stellt die Ausprägung von organisatorischen Merkmalen für die Arbeitsorganisation auf Krankenhausstationen für unterschiedlich gut gestaltete Stationen gegenüber. Man erkennt, dass an den auch in monologischen Arbeitstätigkeiten auftretenden Merkmalen Modifikationen erforderlich werden sowie einige zusätzliche Tätigkeitsmerkmale berücksichtigt werden sollten. Das betrifft u.a. die Vollständigkeit der Pflegetätigkeiten an einem Patienten (Pflegeprinzip), die Möglichkeit zu psychosozialer Zuwendung zu Patienten und den Informationsfluss zwischen den an der Pflege beteiligten Personen (Abbildung 1).

Nach bisherigen Ergebnissen sind die spezifischen Tätigkeitscharakteristika interaktiver Arbeitstätigkeiten wesentlich beteiligt am unterschiedlichen Erleben der eigenen Arbeitstätigkeit durch die Dienstleister, sowie auch am entstehenden Erleben von Fehlbeanspruchungen sowie an der emotionalen Erschöpfung (Abbildung 2).

Damit erscheint es wichtig, Modifikationen in den Aufgabenmerkmalen der internationalen Standards vorzunehmen, wenn sie für die Prävention von Fehlbeanspruchungen in Humandienstleistungen genutzt werden sollen:

2.3.2 Erforderliche Modifikationen von Tätigkeitsmerkmalen mit Bezug auf Humandienstleistungstätigkeiten – Beispiele
Die erforderlichen Modifikationen, die nicht nur in dem Beispiel aus dem Pflegebereich, sondern auch in anderen interaktiven Dienstleistungstätigkeiten nötig sind, betreffen mehrere Tätigkeitsmerkmale:

Zu berücksichtigen ist eine Besonderheit in der Ganzheitlichkeit bzw. Vollständigkeit von Tätigkeiten interaktiver Art. Das Konzept der Ganzheitlichkeit müsste differenziert werden in eine Ganzheitlichkeit für monologische, objektzentrierte Teiltätigkeiten und Teiltätigkeiten dialogischer, klientenzentrierter Art. Auf diese Weise entsteht ein zweidimensionales Konzept der Ganzheitlichkeit (vgl. Tabelle 1).

Des Weiteren muss das Konzept des Tätigkeitsspielraums bzw. der Autonomie bei interaktiven Arbeitstätigkeiten differenziert werden, wie das Zapf und Mitarbeiter vorgeschlagen haben3, 4. Dabei wird Tätigkeitsspielraum im Hinblick auf die Art der Interaktionen sowie spezieller im Hinblick auf die Art und Weise des Emotionsmanagements unterschieden.

Tätigkeitsspielraum mit Bezug auf das Emotionsmanagement, beispielsweise hinsichtlich einer Umbewertung von Situationen im Unterschied zum Unterdrücken und Vorspiegeln von Emotionen, ist wesentlich, weil unterschiedliche Konsequenzen im Hinblick auf die psychische Gesundheit entstehen können, wie das beispielsweise von John und Gross (2004) gezeigt wurde5.

Schließlich haben zum Dritten in interaktiven Arbeitstätigkeiten Aspekte des Informationsmanagements eine besondere Rolle. Interaktive Tätigkeiten sind Tätigkeiten, die ausschlaggebend durch den Informationsaustausch zwischen Dienstleister und Klienten bestimmt sind. Dieser Informationsaustausch kann zu einem spezifischen Regulationshindernis dann werden, wenn unvollständige, verspätete oder falsche Information ausgetauscht wird. Dieser unzutreffende Informationsaustausch kann ein sozialer Stressor werden.

Prävention von Fehlbeanspruchungen in interaktiven Arbeitstätigkeiten erfordert folglich einen optimalen Informationsaustausch. Hinweise auf die Gestaltung dieses Informationsaustauschs kann das sogenannte W-Fragen-System handlungsregulierender Informationen geben17.

Insgesamt müsste der ISO-Standard 6385 für interaktive Dienstleistungsarbeit also vervollständigt und modifiziert werden, sogar hinsichtlich der Merkmale von Arbeitsprozessen, die in ihm angesprochen sind.

Schließlich muss ein konzeptioneller Aspekt der ISO-Standards berücksichtigt werden, nämlich die Konzeption der Arbeitsaufgabe. Aus psychologischer Sicht bezeichnet der Begriff „Aufgabe“ eine Beziehung zwischen Anforderungen auf der einen Seite und Erfüllungsvoraussetzungen des Menschen für diese Anforderungen – sein Wissen, seine Fertigkeiten oder Strategien – auf der anderen Seite. Daher müsste aus der Sicht der Prävention von Fehlbeanspruchungen ein personenbezogener Aspekt der Aufgabenerfüllung in Leitlinien der Fehlbeanspruchungsverhütung aufgenommen werden:

3 Individuelle Arbeitsstrategien
Zunächst erneut ein Beispiel: Neben der Organisation der Arbeitsprozesse, beispielsweise auf Krankenhausstationen, können auch unterschiedliche individuelle Ausführungsweisen erforderlicher Arbeitstätigkeiten durch das Pflegepersonal Fehlbeanspruchungen erzeugen. Das Beispiel illustriert Merkmale individueller Arbeitsweisen in der Pflege. Auf ein und derselben Station können Pflegekräfte sich unterscheiden in dem Ausmaß ihres vorausschauenden Arbeitens, ihrer überlegten Flexibilität mit Bezug auf die veränderlichen Arbeitssituationen, in den Bewältigungsweisen von Störungen in den Arbeitsprozessen, die in unterschiedlichem Ausmaße effizient und gleichzeitig patientenfreundlich sein können (Abbildung 3).

Stab (2009) hat gezeigt, dass diese individuellen Arbeitsstile zur Entstehung emotionaler Erschöpfung als einer problematischen Fehlbeanspruchungsform beitragen16.

Demzufolge gehört das Erlernen und Üben effizienter individueller Arbeitsweisen als eine personenzentrierte Intervention potentiell zu den Möglichkeiten der Fehlbeanspruchungsprävention auch bei interaktiven Erwerbstätigkeiten.

Darüber hinaus gibt es des Weiteren allgemeinere individuelle Bewältigungsstrategien von Arbeitsbelastungen, die in Humandienstleistungstätigkeiten von besonderer Bedeutung sind. Je effizienter diese Bewältigungsstrategien sind, desto niedriger ist die entstehende Fehlbeanspruchung. Überzeugende Evidenz für diese Zusammenhänge ergibt sich aus einer Reihe von interaktionsspezifischen Bewältigungsstilen, die das AVEM-System ermittelt18, 19, 20. Vier Muster dieser verbreiteten Bewältigungsstile von Arbeitsbelastungen wurden differenziert. Sie unterscheiden sich im Risiko des Entstehens von Burnout, speziell des Faktors emotionale Erschöpfung (Abbildung 4). Die Abbildung illustriert diesen Sachverhalt für fast eintausend Lehrer. Zwei der vier Bewältigungsstile sind sogenannte Risikomuster. Die Abbildung 4 zeigt, dass die Auswirkungen bei den Risikomustern A und B signifikant schlechter als bei den beiden anderen Bewältigungsmustern sind. Das betrifft Auswirkungen vom Typ der emotionalen Erschöpfung, der Demotivation, der Arbeitsunzufriedenheit, der Aversion gegen Klienten (Depersonalisation) und der Unfähigkeit, sich gegen das Leid oder die Aggression von Klienten abzuschirmen (mangelnde Distanzierungsfähigkeit).

Bei Krankenhausärzten mit den Risikomustern A und B tritt ein kritisches Ausmaß emotionaler Erschöpfung fünf- bis siebenmal häufiger auf, als in den beiden anderen Bewältigungsmustern17.

Wie bei tätigkeitsspezifischen, individuellen Arbeitsweisen ist auch hier ein spezielles Training risikoarmer Bewältigungsstrategien möglich. Durch dieses Training können die Bewältigungsmuster modifiziert werden in Richtung auf gesundheitsstabilisierende Arten von Bewältigungsmustern. Innerhalb dieses Trainings hat das Üben der Distanzierungsfähigkeit gegenüber fremdem Leid oder aggressivem Klientenverhalten eine besondere Bedeutung: Humandienstleister, die sich in ihrer Distanzierungsfähigkeit unterscheiden, unterscheiden sich auch signifikant im Ausmaß ihrer emotionalen Erschöpfung. Das revidierte Modell der empathiebezogenen Kommunikation kann eine theoretische Erläuterung für diese Auswirkungen unterschiedlicher, trainierbarer Vorgehensweisen in interaktiven Arbeitstätigkeiten bieten21. Es erklärt, dass ein empathisches Eingehen auf die Anliegen von Klienten, nicht aber eine emotionale Ansteckung das eigene Engagement zugunsten der Klienten und das Wohlbefinden der Dienstleister positiv beeinflusst.

Insgesamt müsste demzufolge eine Richtlinie für die Prävention von Fehlbeanspruchungen in interaktiven Arbeitstätigkeiten auch sowohl tätigkeitsspezifische, als auch allgemeine Bewältigungsstrategien, die die Effizienz der Tätigkeitsausübung erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von Fehlbeanspruchungen verringern, in die Möglichkeiten der Prävention aufnehmen.

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