Zum 01.01.2011 wird die neue Unfallverhütungsvorschrift (UVV) Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (DGUV Vorschrift 2) in Kraft treten.
Hierdurch ist erstmalig für alle Berufsgenossenschaften und Unfallkassen der öffentlichen Hand eine einheitliche Vorgabe zur Ermittlung des Betreuungsbedarfs für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit gemäß Arbeitssicherheitsgesetz gegeben.
Die neue Vorschrift führt zu einem Paradigmenwechsel im Arbeitsschutz, der die gemeinsame Herangehensweise von Unternehmer, Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit unter Beteiligung der betrieblichen Interessenvertretung für die Betreuungskonzeption fordert.
Hintergründe der Reform
Die bisher geltenden Regelungen zur Ermittlung der Einsatzzeiten für Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (BGV A2) für den gewerblichen und GUV-VA2 für den öffentlichen Dienst führten zu einer Ungleichbehandlung gleichartiger Betriebe je nach Branche und Unfallversicherungsträger. Weiterhin gab es Unterschiede in Abhängigkeit davon, ob ein Unternehmen im gewerblichen oder öffentlichen Bereich angesiedelt war, was insbesondere bei Änderungen der Gesellschafterzusammensetzung problematisch wurde. So veränderten sich beispielsweise bei der Privatisierung von öffentlichen Einrichtungen die Einsatzzeiten, ohne dass es dafür sachliche Gründe gab.
Das durch das Arbeitsschutzgesetz seit 1996 beschriebene moderne Arbeitsschutzverständnis mit Stärkung der Eigenverantwortung der Unternehmen und der Gefährdungsbeurteilung als Grundlage aller Maßnahmen im Arbeits- und Gesundheitsschutz wurde durch die bisherigen Vorschriften nur unzureichend wiedergegeben. Flexibilität und Bezug auf die betrieblichen Erfordernisse sollten durch die neue Vorschrift gewährleistet sein. Schließlich sollte die Einsatzzeitenberechnung für alle Betriebe vereinfacht und durch klar nachvollziehbare Gedankengänge ermöglicht werden. Auch die politischen Rahmenbedingungen sprechen für eine neue Vorschrift: Nach der Fusion zwischen dem Bundesverband der Unfallkassen (BUK) und dem Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften (HVBG) zum neuen Spitzenverband der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) im Jahre 2008 wird es ab 01.01.2011 nur noch neun gewerbliche Berufsgenossenschaften geben. Die Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand haben sich dazu entschlossen, beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales eine gemeinsame Vorschrift zur Genehmigung einzureichen.
Was ist neu?
Im Gegensatz zur bisherigen Vorschrift steht das Ergebnis der Präventionsarbeit gegenüber einem zeitbezogenen Betreuungsansatz im Vordergrund. Um jedoch Anhaltspunkte für die Personalplanung der Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte zu liefern, werden für die Grundbetreuung nach wie vor feste Zeitvorgaben gemacht. Die Kapazitätsbemessung für die betriebsspezifische Betreuung erfolgt gefährdungs- und situationsabhängig.
Die Zuordnung der Betriebe zu Betreuungs- (Gefährdungsgruppen) ist anhand der europäischen Klassifikation für Wirtschaftszweige, dem WZ-Kode (NACE, Nomenclature generale des activites economiques), eindeutig geregelt. Diese Zuordnung ist den Betrieben bereits seit längerem aufgrund statistischer Anfragen von Behörden bekannt.
Für die Grundbetreuung gibt es ein gemeinsames Zeitbudget für Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit. Diese Vorgabe ist gewollt, weil nur so eine enge Kooperation im Vorfeld zwischen Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft erfolgen kann, die dann mit dem Unternehmer und der betrieblichen Interessenvertretung zu diskutieren ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass die erforderliche Abstimmung zu einer wesentlichen Qualitätssteigerung in der Betreuung führt.
Als großer Fortschritt für den präventiven Arbeitsschutz kann gewertet werden, dass die Degression bei steigenden Beschäftigtenzahlen entfallen ist.
Obgleich bereits im Betriebsverfassungsgesetz, im Arbeitssicherheitsgesetz und im Arbeitsschutzgesetz die Beteiligung der betrieblichen Interessenvertretung festgeschrieben ist, wird diese explizit in der neuen Vorschrift aufgeführt. Im vorliegenden Fall handelt es sich um Rahmenvorgaben, die durch betriebliche Regelungen ausgefüllt werden müssen und somit mitbestimmungspflichtig sind. Betriebs- und Personalräte haben einschneidende Rechte bei der Festlegung der Aufteilung der Grundeinsatzzeit zwischen den Fakultäten, der Bestimmung des Leistungsumfangs in der Grundbetreuung und der betriebsspezifischen Betreuung sowie der Wahl des Betreuungsmodells.
Als großer Fortschritt für den präventiven Arbeitsschutz kann gewertet werden, dass die Degression bei steigenden Beschäftigtenzahlen entfallen ist. Hierdurch wird dem Anspruch genüge getan, dass insbesondere bei der arbeitsmedizinischen Betreuung, jedoch auch bei der Arbeitssicherheit, z.B. in Fragen der Unterweisung und der Motivation jeder Arbeitnehmer zu berücksichtigen ist. Ebenso werden Arbeitnehmer, die in Teilzeit beschäftigt sind, voll in die Bemessung der Einsatzzeiten für die Grundbetreuung einbezogen. Gleiches gilt für Personen, die nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz im Betrieb tätig sind.
Innerhalb eines Betriebes wird es zukünftig keine Unterscheidung mehr zwischen Verwaltung und gewerblichem Bereich geben, es sei denn, es handelt sich um selbständige Betriebsteile. Entscheidend für die Zuordnung ist immer der Betriebszweck und nicht die einzelne Tätigkeit im Betrieb.
Die betriebsspezifische Betreuung sowie die Durchführung von Vorsorgeuntersuchungen, die nicht in der Grundbetreuung enthalten sind, werden anhand der Gefährdungsbeurteilung festgelegt. Hierzu ist ein jährliches Gespräch zwischen Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit, Arbeitgeber und betrieblicher Interessenvertretung erforderlich. Es empfiehlt sich, dieses Gespräch seitens der Fachkraft für Arbeitssicherheit und Betriebsarzt gemeinsam intensiv vorzubereiten, so dass man bereits mit praktikablen Vorschlägen vor die Unternehmensleitung treten kann. Auseinandersetzungen über Inhalt und Umfang der jeweiligen Betreuungskonzeption vor dem Arbeitgeber wären der interdisziplinär geforderten Zusammenarbeit eher hinderlich.
Für ein solches Gespräch bietet sich ein Zeitfenster nach einer Arbeitsschutzausschuss-Sitzung an, die jedoch in jedem Fall vor der endgültigen Budgetfestlegung für das Folgejahr liegen sollte. Vorabkontakte mit Betriebs-/Personalrat können hilfreich sein.
Abbildung 1 skizziert die Aufteilung der Gesamtbetreuung in Grundbetreuung und betriebsspezifische Betreuung zuzüglich der Vorsorgeuntersuchungen. Als besonderer Vorteil der neuen Regelung wird gesehen, dass arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, Individualprävention, Impfaktionen etc. nicht mehr in die Grundbetreuung hineinfallen. Damit bleibt die vorhandende Grundbetreuungszeit voll umfänglich für die Beratungstätigkeit für Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit erhalten.
Die neue Vorschrift gibt umfangreiche Vorgaben und Denkanstöße für die betriebliche Beratungstätigkeit für beide Fakultäten wieder. Für vier Aufgabenbereiche und insgesamt 16 Aufgabenfelder in der betriebsspezifischen Betreuung werden die Leistungen detailliert beschrieben (Abbildung 2). Auffallend ist, dass für alle Aufgabenfelder Zeitansätze für Betriebsarzt und Sicherheitsfachkraft festzulegen sind. Die einzige Ausnahme bildet die Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen an sich, die entweder nach Zeitvorgaben oder als Stückzahl geplant werden kann.
Bereits jedoch für die Ermittlung der Erfordernis der arbeitsmedizinischen Vorsorge ist neben dem ärztlichen, umfangreiches technisches Fachwissen, das sich auf Betriebskenntnis und Gefährdungsbeurteilung stützt, erforderlich. Gleiches gilt für die Verwendung der (ggf. anonymisierten) Ergebnisse der Vorsorgeuntersuchungen, die in betriebliche Maßnahmen technischer und organisatorischer Art umzusetzen sind.
Erstmalig werden auch temporäre Betreuungsanlässe, wie die Beratung zu Gesetzesänderungen, in den Leistungsumfang mit aufgenommen. Betriebliche Aktionen, Programme und Maßnahmen, z.B. Gesundheitstage oder Schwerpunktkampagnen, werden explizit beschrieben eine Steilvorlage für eine umfassende Betreuung.
Festlegung des Betreuungsmodells für Klein- und Kleinstunternehmen
In Abhängigkeit der Festlegung der einzelnen Unfallversicherungsträger kann für Betriebe unter 50 bzw. unter 10 Beschäftigten neben der Regelbetreuung eine alternative Betreuungsform gewählt werden. Hiermit ist beispielsweise das bewährte Unternehmermodell oder die Betreuung durch Kompetenzzentren gemeint. Für die Wahl des Betreuungsmodells sind Teilzeitbeschäftigte mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von nicht mehr als 20 Stunden mit 0,5 und mit nicht mehr als 30 Stunden mit 0,75 zu berücksichtigen. Dies kann durchaus dazu führen, dass auch größere Betriebe mit weit über 50 Beschäftigten (so sie viele Teilzeitbeschäftigte haben) alternativ betreut werden können. Ob damit der hohe Qualitätsanspruch eingehalten werden kann, bleibt abzuwarten.
Anhand des praktischen Beispiels wird bereits ersichtlich, dass nur für die Grundbetreuung die gleiche Betreuungszeit wie 2010 anzusetzen ist. Im Konsens zwischen Unternehmensleitung, Betriebsrat, Betriebsarzt und Fachkraft für Arbeitssicherheit wurde festgelegt, dass die Grundbetreuung für den Betriebsarzt 120 Stunden und für die Fachkraft für Arbeitssicherheit 180 Stunden betragen soll. Hinzu kommt auf jeden Fall die Zeit für die Vorsorgeuntersuchungen.
Spannend für 2011 bleiben zwei Fragen:
1. Ist die Behindertenwerkstatt bereit, den erhöhten in jeder Hinsicht sinnvollen Betreuungsaufwand zu tragen?
2. Steht ausreichende ärztliche und technische Mitarbeiterkapazität zur Verfügung?
Übergangsphasen
Die DGUV Vorschrift tritt am 01. Januar 2011 in Kraft. Für den gewerblichen Bereich ist sie damit ab diesem Zeitpunkt verpflichtend. Im öffentlichen Bereich muss zeitgleich die nicht befristete Vorschrift GUV-VA2 zurückgezogen werden. Nach Aussage einiger Unfallkassen (z.B. Sachsen, Niedersachsen) ist hiermit nicht zum 01.01.2011 zu rechnen. Dadurch wird sich für 2011 noch eine Art Übergangsphase ergeben, in der die Einsatzzeit nach der alten Vorschrift berechnet werden kann.
Da die Genehmigung für den gewerblichen Bereich durch das BMAS erst zum 31.10.2010 erfolgte, ist die Übergangsphase bis zum 01.01.2011 außerordentlich knapp bemessen. Weder die Information der Betriebe, noch die Befähigung aller Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit zum Umgang mit der neuen Vorschrift wird innerhalb von zwei Monaten möglich sein.
Es ist daher davon auszugehen, dass die Gespräche zwischen Betriebsarzt, Fachkraft für Arbeitssicherheit und Unternehmer gemeinsam mit Mitarbeitervertretung Anfang 2011 beginnen werden, spätestens jedoch zur Budgetfestlegung für das Jahr 2012 abgeschlossen sein müssen. Viele der Aufgabenfelder entsprechen einem modernen Arbeitsschutzverständnis und werden mit dem Unternehmer intensiv zu diskutieren sein.
Fachkräfte für Arbeitssicherheit und Betriebsärzte haben die Chance, sich durch proaktives Handeln umfassend in die betriebliche Prozessgestaltung einzubringen.
Nutzen wir sie!
Literatur:
1. Unfallverhütungsvorschrift Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit (DGUVVorschrift 2). Fassung vom 22.07.2010
2. DGUV (Hrsg.): DGUV Vorschrift 2 Hintergrundinformation für die Praxis. Universum Verlag, Wiesbaden, 2010
3. Arnold D. Die Chancen überwiegen. VDSI aktuell (2010) 2, 1213
4. Kiparski Rv., Panter W, Letzel S. Gemeinsame Stellungnahme zum Entwurf der DGUVVorschrift 2. ErgoMed 33 (2009) 139
5. Rentrop M, Strothotte G. Reform der Unfallverhütungsvorschrift Betriebsärzte und Fachkräfte für Arbeitssicherheit. DGUV Forum 2 (2010) 1011