Das nachfolgend besprochene Werk stellt einen Teilband o.g. Handbuchs dar. Wie der Titel besagt, richtet es sich vor allem an klinisch tätige Neurologen. Themen wie die Wirkung beruflicher Belastungen auf das Nervensystem und die Rehabilitation bei neurologischen Erkrankungen sind aber auch für den Arbeitsmediziner relevant. Die Herausgeber sind ausgewiesene Experten auf ihrem Gebiet und haben internationale Autoren für die insgesamt 28 Kapitel gewinnen können.
Fünf einleitende Kapitel bilden die „Section 1“. Das erste befasst sich mit Grundlagen. Angerissen werden unterschiedliche Wirkungsmechanismen, verschiedene klinische Symptome und Diagnosen, die Neuroepidemiologie sowie Aspekte der Kausalitätsbeurteilung und der Prävention. Das folgende Kapitel behandelt die klinische Diagnostik beruflich verursachter neurotoxischer Erkrankungen. Daran schließt sich das Kapitel 3 über neuropsychologische Untersuchungen an. Im Kapitel 4 wird die Erfassung der Exposition behandelt, der Schwerpunkt liegt auf den chemischen Einwirkungen. Im 5. Kapitel werden ausführlich unterschiedliche Wirkungsmechanismen von verschiedenen Substanzen besprochen.
Der 2. Abschnitt befasst sich mit Gesundheitsstörungen, die durch Neurotoxine verursacht werden. Thema von Kapitel 6 ist die chronische Leukenzephalopathie. Der Titel des 7. Kapitels „Neurotoxicity of solvents“ ist etwas irreführend, da der Fokus auf der toxischen Enzephalopathie liegt. Deren verschiedene Aspekte werden ausführlich beschrieben. Die folgenden Kapitel widmen sich den Wirkungen ausgewählter Substanzen bzw. Wirkstoffgruppen, nämlich dem Schwefelwasserstoff, Pestiziden und Insektiziden, Metallen sowie Kohlenmonoxid.
Der Abschnitt 3 trägt den Titel „Movement disorders“, eingeschlossen sind das Parkinson-Syndrom und andere Bewegungsstörungen. Im Kapitel 13 werden Tiermodelle dazu besprochen. Das Kapitel 14 befasst sich mit beruflichen Expositionen und dem Parkinson-Syndrom. Die Bearbeitung stellt ein zugegebenermaßen schwieriges Unterfangen dar, da die Thematik sehr komplex ist und insbesondere in den letzten Jahren zahlreiche Publikationen zu den Wirkungen von Pflanzenschutzmitteln erschienen sind. In der Einleitung wird eine Publikation von Wirdefeldt und Kollegen (2011) zitiert, jedoch ohne den Leser auf die erheblichen methodischen Mängel dieser Arbeit hinzuweisen. Der Autor des Kapitels fokussiert auf Wirkstoffe und Klassen von Wirkstoffen, für die die seiner Ansicht nach stärkste epidemiologische und experimentelle Evidenz vorliegt. Anschließend werden in der Industrie verwendete halogenierte Verbindungen, Metalle und organische Lösungsmittel besprochen. Stärker berücksichtigten müssen hätte der Autor die Tatsache, dass in der Landwirtschaft sehr häufig Mischexpositionen vorkommen. Es fehlt der Hinweis, dass in Frankreich ein Parkinson-Syndrom bei einer Exposition gegenüber Pflanzenschutzmitteln anerkannt werden kann, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Im Kapitel 15 wird Tremor als Folge von Expositionen gegenüber Quecksilber, Blei, organischen Lösungsmitteln und Pestiziden besprochen. Unter dem klinischen Aspekt der Differenzialdiagnose erscheint dieses Kapitel als ausgesprochen sinnvoll.
Der 4. Abschnitt enthält nur das Kapitel 16, in dem toxische Neuropathien behandelt werden. Der Leser findet detaillierte Beschreibungen der Krankheitsbilder, der neurophysiologischen Untersuchungsverfahren einschließlich der Interpretation der Ergebnisse, Besprechungen relevanter Neurotoxine am Arbeitsplatz, wichtige Differenzialdiagnosen und Kriterien der Kausalität.
Der 5. Abschnitt widmet sich den Sinnesorganen. Kapitel 17 hat toxische Wirkungen auf das Riech- und Schmeckvermögen zum Inhalt. Es beginnt mit einem instruktiven Überblick über die Anatomie und Physiologie. Anschließend werden unterschiedliche neurotoxische Effekte erläutert. Die chemische Systematik ist nicht ganz korrekt, dennoch findet der Leser rasch die meisten der interessierenden Substanzen. Eine Ausnahme bildet Methylmethacrylat, besprochen werden nur die Acrylsäure und ihre Ester. Ansonsten ist das Kapitel kompetent verfasst. Die Schmeckstörungen werden nur kurz behandelt, weil es kaum Literatur zu dieser Thematik gibt. Kapitel 18 befasst sich mit den Erkrankungen des Sehapparats. Nach einer kurzen Einführung in die Anatomie und Physiologie werden die Wirkungen einiger organischer Lösungsmittel und Metalle besprochen. Nicht überzeugen kann das Unterkapitel zu den Wirkungen von Toluol. Hier wurden die Ergebnisse von methodisch mangelhaften Publikationen (Zavalic et al.) kommentarlos übernommen. Bei der Vielzahl der Publikationen zu toxischen Wirkungen auf das visuelle System musste der Autor zwangsläufig eine Auswahl treffen. Nicht besprochen wurden die retinotoxischen Wirkungen von Pestiziden, sondern es wurde nur auf einschlägige Literaturzitate verwiesen. Diese Entscheidung ist bedauerlich, zumal die Herausgeber in ihrem Vorwort ausdrücklich auch Arbeitsmediziner angesprochen haben. Das 19. Kapitel hat das Sinnesorgan Ohr zum Thema mit Anatomie, Physiologie sowie Wirkungen von Lärm und verschiedenen chemischen Arbeitsstoffen.
Gegenstand des 6. Abschnitts sind muskuloskelettale Erkrankungen. Im Kapitel 20 werden relevante Arbeitsbereiche und Berufstätigkeiten im Kontext mit den verschiedenen Gesundheitsstörungen angesprochen. Etliche Belastungen werden durch instruktive Abbildungen erläutert. Verschiedene Verfahren zur ihrer Erfassung werden dargestellt. Gegenstand des 21. Kapitels ist der Kreuzschmerz. Das nachfolgende Kapitel befasst sich mit beruflich verursachten Mononeuropathien, von denen das Karpaltunnelsyndrom nur eine darstellt. Im Kapitel 23 werden Gesundheitsstörungen der oberen Extremität und im Schulter-Nacken-Bereich abgehandelt, die bei der Bedienung von Tastatur bzw. Maus beobachtet wurden.
Im 7. Abschnitt werden unterschiedliche Themen besprochen. Dazu gehören Schlafmangel bei Schichtarbeit, Kopfschmerzen und Migräne als Ursache von Fehlzeiten, Rehabilitation nach Schädel-Hirn-Traumata, das komplexe regionale Schmerzsyndrom sowie die Unterstützung von Beschäftigten mit chronischen neurologischen Erkrankungen.
Zusammenfassend handelt es sich um ein nicht nur für den klinisch tätigen Neurologen, sondern auch für den Arbeitsmediziner lesenswertes Werk. Eine stichprobenweise vertiefte Prüfung deckte kleinere Schwächen in einzelnen Kapiteln auf. Deshalb empfiehlt es sich, die Inhalte kritisch zu bewerten und im Zweifelsfall relevante Originalarbeiten einzusehen. Für den Betriebsarzt dürfte die Anschaffung der gebundenen Ausgabe dann nicht lohnen, wenn er sich nur zu speziellen Fragestellungen informieren will. Es besteht aber die Möglichkeit, einzelne Kapitel als pdf-Dateien zu erwerben. Auf der Website des Elsevier-Verlags (http://store.elsevier.com/ Occupational-Neurology/isbn-97804 44626288/) finden sich leider nur die Titel der Kapitel sowie ihrer Unterkapitel, aber keine Abstracts, die eine Entscheidung erleichtern könnten. Das Inhaltsverzeichnis auf der Website suggeriert, dass die einzelnen Kapitel Abstracts besitzen. Jedoch trifft dies zumindest für die Buchversion nicht zu. Mir ist nicht bekannt, ob die pdf-Dateien Abstracts aufweisen. Zumindest einige Abstracts finden sich in der Datenbank PubMed.
Marcello Lotti und
Margit L. Bleecker (Hrsg.):
Occupational Neurology. Volume 131 des Handbook of Clinical Neurology, herausgegeben von Michael J. Aminoff, Francois Boller und Dick F. Swaab.
Elsevier, Edinburgh, 2015.
Gebunden 528 Seiten, in Englisch. ISBN: 9780444626271. Preis für die gebundene Ausgabe ca. 150 €,
einzelne Kapitel können als
pdf-Dateien erworben werden.