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Unbewältigte Kulturunterschiede verhindern Sicherheitskultur

Wenn es trotz aller Anstrengungen von Arbeitgebern und Sicherheitsingenieuren/Betriebsärzten nicht dauerhaft funktioniert mit dem Arbeitsschutz, hat das meist tieferliegende Gründe, die mit dem Begriff Kultur verbunden sind. Das Phänomen ist weit verbreitet und nicht auf bestimmte Branchen beschränkt. Hier soll beispielhaft untersucht werden, warum es bisweilen so schwer ist, Arbeitsschutz im Forschungsbereich zu kommunizieren, einzuführen und auf akzeptablem Niveau aufrecht zu erhalten. Kulturbedingte Unterschiede sowohl bei der Wahrnehmung als auch in der Kommunikation von Risiken scheinen hierbei eine systembedingte Dialogunfähigkeit zu erzeugen.

Wieso Kultur?
Der Begriff „Kultur“ als ein Schlüsselbegriff muss erläutert werden. Einen sehr vereinfachten Zugang zum Begriff bietet Abbildung 1. Der sogenannte Kulturkern in einer bestimmten Kultur besteht aus den in dieser Kultur geteilten Grundannahmen und daraus abgeleiteten Werten, die den Charakter von Orientierungsmustern besitzen. Diese Definition kann zur Unterscheidung verschiedener objektiver Kulturen herangezogen werden. Auch Organisationen wie z. B. Universitäten, Forschungsorganisationen oder Forschungsbetriebe besitzen einen solchen Kulturkern, um den herum sich verschiedenste soziale Systeme mit ihren unterschiedlichen Kulturausprägungen anordnen.

Genkova (2012)2 stellt fest, „dass die subjektive Kultur die Art und Weise darstellt, wie die Menschen ihre Kultur wahrnehmen und wie dadurch die Denk- und Verhaltensmuster einer Person beeinflusst werden. Die subjektive Kultur äußert sich auch in der Wahrnehmung und Bewertung der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Lebens und der Lebenszufriedenheit.“ Soziale Gruppen geben dem Menschen als Angehörigem eines sozialen Systems im kulturellen Leben Antwort auf die Frage, wer er im Vergleich zu den Übrigen ist, und sie bestimmen seine Identität.

· Durch Gruppenbildung und der Form des Handelns in ihr bilden sich Gemeinschaften oder Gesellschaften, die sich gegen andere Gruppen abgrenzen, Mitglieder aufnehmen oder ausschließen. Diese Vorgänge bestimmen unabhängig von den konkreten Inhalten die Identität einer Gruppe und des Einzelnen in der Gruppe.

· In Universitäten, Forschungsorganisationen oder Forschungsbetrieben können vor allem die Subsysteme Wissenschaft, Verwaltung und Technik als Träger einer eigenen Kultur identifiziert werden. Wir müssen uns zunächst der Frage widmen, ob und, falls ja, wie sich die Kulturkerne in diesen drei Subsystemen voneinander unterscheiden, bevor wir uns mit der Frage beschäftigen, inwieweit solche Unterschiede die Kommunikation über oder die Akzeptanz von Arbeitsschutz tatsächlich beeinflussen.

Technikkultur
Beginnen wir mit der uns vertrauten Technikkultur, die hauptsächlich durch die Träger und Mitarbeiter der technischen Infrastruktur der Forschungsbetriebe repräsentiert wird.

· Die wichtigste Position der Technikkultur besteht darin, dass die Technik dem Menschen nicht „feindlich“ gegenübersteht, sondern einen festen, allgegenwärtigen Bestandteil unserer Lebenswelt und deren Wissens-, Handlungs- und Orientierungssysteme darstellt.

· Ein Paradigma der Technikkultur ist die „Machbarkeit“. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass es in der Techniksphäre kein Problem gibt, das nicht mittels Investitionen in ausreichende Ressourcen technisch gelöst werden kann.

· Ein weiterer Aspekt der Grundannahmen über Umweltbeziehungen ist die technische Realisierung und die Zweckorientierung von Kommunikation. Kommunikation wird in der Technikkultur vorwiegend in ihrer physischen Repräsentation zum Zweck von Datenerzeugung, -transport, -verarbeitung oder -speicherung verstanden. Begriffe wie z. B. Kanalkapazität, Schicht-Modell oder Übertragungsredundanz haben aber inzwischen auch Eingang in die Kognitionsforschung der Sozialwissenschaften gefunden.

In der Technikkultur wird aber nicht gerne über eines ihrer Hauptprobleme gesprochen, nämlich über die bestehenden Grenzen der informationstechnischen Bewältigung überkomplexer technischer Systeme, die eine reale Bedrohung der Machbarkeitsfiktion darstellen.

Aus den selbst gestellten Anforderungen an die Ermöglichung technischer Lösungen erwachsen in der Technikkultur hohe Ansprüche an Systemzuverlässigkeit und -sicherheit, die zu dem für Ingenieurberufe charakteristischen probabilistischen Risikoverständnis geführt haben.

· Die Grundannahmen der Technikkultur über die menschliche Natur und menschliche Tätigkeiten sind vorwiegend sozio-technisch geprägt.

· Sie betonen dabei stark anthropometrische Fakten und Erfahrungen an Mensch-Maschine-Schnittstellen.

· Diese Grundannahmen und das Risikoverständnis der Technikkultur sind unmittelbar an die Bereiche Ergonomie und Arbeitsschutz anschlussfähig.

Es ist deshalb kein Zufall, dass die Ausbildung von Fachkräften für Arbeitssicherheit vorwiegend die sozio-technische Sichtweise der Technikkultur auf Arbeitssysteme in den Mittelpunkt stellt.

· Weitgehend ausgeblendet bleiben in der Technikkultur hingegen Grundannahmen über menschliche Beziehungen und deren kulturbedingt unterschiedliche Ausprägung bei der Bewertung von Risiken im sozio-technischen System.

· Untersuchungen zeigen aber (z. B.. Weißbach et al., 1994)4, dass mit diesem blinden Fleck erhebliche Risiken generiert werden. Vieles deutet darauf hin, dass dieses Kommunikationshindernis auch in Forschungsbetrieben an der Schnittstelle der Techniksphäre zu anderen sozialen Systemen wie dem Verwaltungs- oder dem Wissenschaftssystem und dort vor allem bei der Bewältigung baulich-technischer Risiken und entsprechenden Schutzmaßnahmen auftritt.

Verwaltungskultur
Als zweiter Kulturkreis innerhalb von Forschungsbetrieben ist die Verwaltung zu nennen. Die Wahrnehmung von Verwaltungstätigkeiten in den Bereichen Personal, Einkauf, Haushalt usw. erfolgt im Rahmen festgelegter Kompetenzen innerhalb einer festen Hierarchie. Dies gilt im jeweiligen Maßstab für die dezentralen Verwaltungen von Instituten ebenso wie für die Zentralverwaltungen z. B. von Universitäten oder Forschungsorganisationen.

Ein zentrales Paradigma der Verwaltung ist die Bürokratie. Bürokratie besitzt einige konstituierende Merkmale, aus denen sich die wichtigsten Grundannahmen einer Verwaltungskultur ableiten lassen.

· Als Spezifika sind hier zunächst die ausgeprägte Regelbildung sowie eine der frühen Moderne entsprechenden Degradierung der Bedeutung des Individuums auffällig.

· Bürokratie als Instrument rationaler Herrschaftsausübung impliziert bereits die Beziehung der Verwaltungskultur zu ihrer Umwelt.

· Organisiertes Verwalten besteht vorwiegend aus zeitnahem, aufgabenbezogenem Erfassen, Betreuen, Leiten und Lenken dynamischer sozialer Systeme nach stabilen Vorschriften und greift damit zwangsläufig in die verwalteten Bereiche ein.

Konflikte der Verwaltung mit der Technik- und der Wissenschaftssphäre um die Verwaltung von Ressourcen oder deren Allokation stellen deshalb ein normales, alltägliches Phänomen dar.

Zur Verwaltung gehört das Hierarchieprinzip, welches über die Regelung der Zuständigkeit zu einer effizienten Arbeitsorganisation in arbeitsteiligen, hierarchischen Strukturen führt.

· Dieses Prinzip wird durch das der Schriftlichkeit von Verwaltungstätigkeit ergänzt, aus dem transparent wird, wer in der Hierarchie wann welche Vorgänge mitbearbeitet bzw. mitentschieden hat.

· Vor allem im Wissenschaftssystem wird dieses Prinzip aber häufig nicht eingehalten. Als Institutsleiter kann ein Wissenschaftler z. B. seiner Verwaltung jederzeit und an jeder Stelle Anweisungen erteilen.

· Problematisch sind dann vor allem solche Verwaltungsentscheidungen, die nicht aus dem Verwaltungssystem selbst heraus getroffen wurden, sondern der Verwaltung z. B. durch das Wissenschaftssystem zur Umsetzung übergeben werden, was in der Verwaltung wiederum zu irritierenden und rechtlich bedenklichen Regel- und Zuständigkeitsbrüchen führen kann.

Bürokratische Strukturen sind einerseits nur dann durch Arbeitsteilung, Einsatz von speziellen Mitteln und Anwendung bewährter Denkweisen effektiv, stabil und verlässlich, wenn sie nicht zu oft verändert werden.

· Auf der anderen Seite erfordern die Veränderungen im verwalteten System auch Anpassungen in der Verwaltung.

· Vor dieser Herausforderung steht das Verwaltungssystem in Forschungsbetrieben immer wieder neu.

· Die forschungspolitisch so gewollten Kooperationen, vielfältige neue Aufgaben sowie ambitionierte Internationalisierungsprogramme entfalten eine Dynamik, der viele Verwaltungssysteme strukturell wie qualitativ bisweilen nicht mehr folgen können.

Bürokratie behandelt im Regelfall alle gleich; sie ist als Verwaltungsordnung neutral. Die hohe Regelbindung sorgt einerseits dafür, dass Probleme und Fragestellungen nach vorgefertigten Schemata gelöst werden; andererseits wird dadurch eine Verwaltung für Sonder- und Einzelfälle auch unflexibel.

· Gerade die sehr speziellen Anforderungen aus dem Wissenschaftssystem bringen deshalb die Verwaltung bisweilen in schwierige Situationen, in denen aus der Sicht der Verwaltungskultur z.T. sehr exotisch anmutende Einzelfälle mit entsprechend hohem Aufwand zu bearbeiten sind.

· Der damit verbundene, im Vergleich mit Verwaltungsroutinen zusätzliche (und durch die Aufgabe auch gerechtfertigte) Zeitaufwand setzt die Verwaltung häufig einer unangemessenen Kritik der Inflexibilität oder gar der Untätigkeit aus dem Wissenschaftssystem aus, was durch betroffene Verwaltungsmitarbeiter als ungerecht empfunden wird.

Grundsätzlich gilt eine Trennung von Funktion und Person: Die Arbeit wird nach vorstrukturierten Funktionen zugewiesen und nicht nach den individuellen Fähigkeiten eines Mitarbeiters. Der einzelne Verwaltungsmitarbeiter muss dafür keine große Verantwortung tragen, da diese bereits in den Regeln und der Art der Aufgabenorganisation abgebildet wird.

· Würde er bürokratische Regeln überschreiten, könnte er zur Rechenschaft gezogen werden.

· Diesem Risiko ist ein Verwaltungsmitarbeiter immer dann ausgesetzt, wenn das Wissenschaftssystem von ihm Lösungen an der Grenze der Legalität erwartet und er dazu sowohl eine umfassende Überprüfung auf Regelkonformität vornehmen und dabei auch seinen persönlichen Ermessensspielraum voll ausschöpfen muss.

· In solchen Fällen hat der Verwaltungsmitarbeiter einen Paradigmenwechsel zu vollziehen, der den Kern der Verwaltungskultur trifft.

Abschließend muss darauf hingewiesen werden, dass die Kulturkreise Verwaltung und Technik in Forschungsbetrieben aufgrund ihrer gemeinsamen Servicefunktion gegenüber dem Wissenschaftssystem gut verzahnt sind und ihre kulturbedingten Unterschiede bilateral weitgehend anerkannt haben, was zu einer relativ unkomplizierten Koexistenz dieser beiden Kulturkreise führt. Dies ist auch der Grund für die Zusammenfassung der Kulturkreise Technik und Verwaltung zu einem technisch-administrativen Bereich.

Wissenschaftskultur
Wissenschaftskultur umfasst Rahmenbedingungen, Organisationsformen und Ausprägungen des wissenschaftlichen Arbeitens einschließlich der historischen Wissenskultur. Wissenschaft definiert sich über die Suche nach Wahrheit. Insoweit lässt sich auch ein Kern der Wissenschaftskultur erkennen.

· Als wichtigste soziale Ressource gilt dort Evidenz, welche über Beweise Wahrheiten produzieren soll, aus denen wiederum erwartbare Konsequenzen oder Prognosen ableitbar sind.

· In der Wissenschaft gelten deshalb besondere theoretische und praktische Normen und Standards zur Absicherung einer wissenschaftlichen Objektivität.

· Dieser Satz von Wert- und Glaubensvorstellungen stellt eine grundsätzliche Wertverpflichtung der Wissenschaft dar und gilt ganz universell.

In einem bemerkenswerten Gegensatz zur Anerkennung der Notwendigkeit theoretischer und praktischer Normen oder Standards zum Zweck der Absicherung wissenschaftlicher Objektivität steht in der Wissenschaftskultur die Regelaversion in anderen Kontexten wie z. B. im Arbeitsschutz, die bisweilen bis zur Animosität reicht.

· Im Arbeitsschutz wäre der Umgang damit möglicherweise einfacher, wenn es sich dabei nicht um Aversion, sondern um Ressentiments und Vorurteile gegen Regularien handeln würde, die sich im Diskurs thematisieren und sogar aufheben ließen.

· Aversion stellt aber eine unbewusste Emotion dar, die offensichtlich im Kern der ansonsten evidenzbewussten Wissenschaftskultur zu verorten ist.

· Hier verläuft deshalb eine harte Konfrontationslinie zwischen dem Wissenschaftssystem, dem vorwiegend regelbasierten Verwaltungssystem und den sozio-technisch abgeleiteten Regularien des Arbeitsschutzes.

Das Wissen einer Gruppe, durch evidente Beweisführung auf die Folgen der eigenen Handlungen oder der konkurrierender Gruppen hinzuweisen, spielt eine besondere Rolle in der Entscheidung sozialer Konflikte.

· Dieser Umstand hat denn auch belastende Folgen für die sozialen Vereinbarungen von Grenzrisiken im Arbeitsschutz vor allem dann, wenn sich wissenschaftliche Denkweisen und ein vorwiegend sozio-technisch angelegtes Denkmodell der Unfallentstehung und dessen ingenieurtypische Anwendung im Arbeitsschutz begegnen.

· Ein – aus anderen Kulturkreisen heraus häufig kritisiertes – Merkmal der Wissenschaftskultur ist deren eigene Sprache, die sich begleitend zu einer hochgradigen Ausdifferenzierung von wissenschaftlichen Fachdisziplinen in Form von Fachbegriffen und speziellen Fachjargons entwickelt hat und sich gerade bei der Diskussion von Grenzrisiken innerhalb neuer Forschungsrichtungen oder -techniken als Kommunikationsbarriere erweist.

Der Wissenschaft als Institution und organisiertem sozialen System sind auch spezifische Grundannahmen über das Wesen menschlicher Tätigkeiten und Beziehungen eigen.

· Die Wissenschaftskultur ist z. B. geprägt von einem Wissenschaftsmythos, der die unbedingte Hingabe an die Wissenschaft voraussetzt.

· Der Glaube an die besonderen Begabungen und die Forschungspotenz der „besten Köpfe“ gehört ebenfalls zu diesen Selbstverständlichkeiten.

· Andererseits ist Forschung inzwischen vielerorts zum Betrieb geworden, oft auch zum organisierten Prozess innerhalb von Schwerpunkten, Zentren oder Netzwerken, hinter dem der individuelle Wissenschaftler zunehmend an Bedeutung und Profil verliert.

Anerkennung, Reputation und Auszeichnung gelten aber in der Wissenschaft als Erfolgskriterien, was wiederum die Existenz und eine stillschweigende Akzeptanz sehr unterschiedlicher Grade von Sozialprestige innerhalb des sozialen Systems Wissenschaft impliziert.

· Dies deutet gleichzeitig auf die mögliche Ausbildung eines nicht unerheblichen Machtgefälles innerhalb des Wissenschaftssystems hin, welches durch den selbstverstärkenden Mechanismus der mit dem wissenschaftlich erworbenen Sozialprestige verbundenen, verbesserten Ressourcenausstattung auch nach Maßstäben der eigenen kulturbedingten Werte und Grundsätze zu dysfunktionalen Selektionsprozessen führen kann.

· Die Versuchung ist groß, dieses Sozialprestige auch mit unlauteren Methoden zu erreichen. Wissenschaftliches Fehlverhalten dieser Art wird in fast allen Forschungsbetrieben deshalb hart sanktioniert.

· Ein derart ausgeprägtes Machtgefälle innerhalb des Wissenschaftssystems behindert die Dialogfähigkeit dieser Wissenschaftskultur zusätzlich.

· Hierarchieorientierung zeigt sich nicht zuletzt in der interpersonalen Interaktion, nimmt auch im Wissenschaftssystem deutscher Forschungsbetriebe die Funktion eines Kulturstandards ein, ist in diesem Fall sozial und gesellschaftlich gut verankert sowie außerordentlich resistent gegenüber Veränderungen durch sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Wandel.

· Kemp (1992)5 weist darüber hinaus auf das besondere Problem wissenschaftlicher Hierarchien in Organisationen technisch-wissenschaftlicher Art hin, das in einem grundsätzlichen gesellschaftlichen Vertrauensverlust gegenüber den Wissenschaftlern aus einem derart disziplinierten Milieu besteht.

Immer mehr Wissenschaftler sind nur innerhalb zeitlich befristeter Verträge beschäftigt. Die Wertverpflichtungen und grundsätzlichen Erwartungen der Wissenschaftskultur gelten auch für sie.

· Ihr ökonomischer Anreiz besteht weniger in der in dieser Zeit bereitgestellten finanziellen Gratifikation als im sozialen Prestige und im Wettbewerbsvorteil entsprechender Einträge in der persönlichen Vita, die sich, so die Hoffnung, in der weiteren Karriere auszahlen.

· Sie stehen bei der Abwicklung von Projekten und der Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten wegen der nur begrenzt verfügbaren Zeit permanent unter Druck und auch unter stetiger Beobachtung.

· Das Szenario ist durchaus strategisch geplant und gewollt, denn es dient der Selektion der Besten bei der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

· Dieser Selektions- und Wettbewerbsdruck wirkt für den Arbeitsschutz kontraproduktiv, da unter den genannten Bedingungen die „unbedingte Hingabe an die Wissenschaft“ häufig mit Phänomenen der Selbstausbeutung und der kognitiven Abschottung gegenüber ablenkenden bzw. „forschungsfernen Themen“ wie z. B. dem Arbeitsschutz einhergeht.

· Aus der Sicht des Arbeitsschutzes muss dies als eine systemimmanente Fehlentwicklung der Wissenschaftskultur identifiziert werden, denn neben der individuellen Betroffenheit des Wissenschaftlers geht es hier auch um die Sicherheit der von unsicherem Verhalten potenziell betroffenen Kollegen ebenso wie um den Grad der Antizipation des Arbeitsschutzes durch jenen Typus von Wissenschaftlern, den ein solcher Selektionsprozess hervorbringt.

Forschungsfreiheit
Schließlich muss im Kontext der Wissenschaftskultur noch das besondere Verständnis autonomer Forschung diskutiert werden.

· Die Notwendigkeit einer aus der Wissenschaftskultur heraus entwickelten generischen Zweckfreiheit ist eine wichtige Begründung für z. B. die Autonomie der Grundlagenforschung, die sich in diesem Punkt deutlich von der Zweckorientierung in der angewandten Forschung und der Entwicklungsforschung der Industrie unterscheidet.

· Die Richtung, in die geforscht wird, sowie die damit verbundenen konkreten Forschungsprojekte bestimmen deshalb die Forschungsbetriebe im Rahmen der ihnen garantierten wissenschaftlichen Autonomie weitgehend selbst.

· Diese autonome Selbstbestimmung ist jedoch kein Selbstzweck, sondern gehört zum Kulturkern einer ausschließlich auf Evidenz aufbauenden Suche nach Erkenntnis.

Dieser Aspekt berührt unmittelbar die nach Artikel 5 (3) GG grundrechtlich garantierte Forschungsfreiheit.6 Geschützt ist dadurch jede Tätigkeit auch im außeruniversitären Bereich, die nach Inhalt und Form als ernsthafter, planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist und bei der ein gewisser Kenntnisstand und ein bestimmtes methodisches Vorgehen vorausgesetzt werden muss.

Art. 5 (3) GG wird von Wissenschaftlern aber auch als Argument verwendet, wenn es um die reflexartige Abwehr von Arbeitsschutzmaßnahmen im persönlichen Forschungsumfeld geht.

· Dieser gruppen- und kulturspezifisch überinterpretierten Bedeutung der Forschungsfreiheit begegnen Arbeitsschützer im Wissenschaftssystem vor allem dann, wenn regel-averse – also unbewusste – Reaktionen gegen Arbeitsschutzmaßnahmen einsetzen.

· In solchen Auseinandersetzungen ist eine rationale Widerlegung der Überinterpretation unerlässlich.

· Der eigentliche Schutz des Art. 5 (3) GG gewährleistet lediglich die Freiheit von jeglicher staatlichen Einmischung.

· Sofern sich die Forschung bei der Suche nach Wahrheit allerdings über fremde Rechtsgüter hinwegsetzt, kann sie diesen Schutz verlieren.

· Einer zu weitgehenden Interpretation von Forschungsfreiheit steht deshalb z. B. auch Artikel 2 (2) 1. GG entgegen.7

· Im Übrigen bezieht sich Art. 5 (3) GG ausschließlich auf die Befassung mit wissenschaftlichen Tätigkeiten und nicht auf die technisch-administrativen Aspekte des Forschungsbetriebs, zu denen auch der Arbeitsschutz gehört.

Zusammenfassend lassen sich demnach zwischen dem Wissenschaftssystem und dem technisch-administrativen Subsystem von Forschungsbetrieben recht klar unterscheidbare Kulturkerne mit sehr unterschiedlichen Grundannahmen und Werten herausarbeiten. Wir wollen nun untersuchen, inwieweit diese Unterschiede die Kommunikation über oder die Akzeptanz von Arbeitsschutz in Forschungsbetrieben tatsächlich beeinflussen.

Risiko und Kommunikation
von Risiken Im Arbeitsschutz gibt es eine klare sozio-technisch konstruierte Ursachen-Wirkungsrelation für die Entstehung von Risiken: Ein Mensch mit seinen individuellen Leistungsvoraussetzungen kommt unter den Voraussetzungen weiterer Gefahr-bringender und/oder -begünstigender Bedingungen in den Einflussbereich einer Gefahr, die durch definierte Gefährdungs- und Belastungsfaktoren beschrieben werden kann.

Diese Konstellation und der daraus resultierende Risikobegriff entspringen einer Modellvorstellung über die Entstehung von Unfällen oder arbeitsbedingten Erkrankungen.

· Beide sind ohne Zweifel hilfreich für die im Arbeitsschutz eingesetzten Instrumente der Gefährdungsbeurteilung oder der Einzelunfall-Analyse, und sie haben sich in der betrieblichen Präventionsarbeit nachweislich bewährt.

· Der im Arbeitsschutz verwendete Risikobegriff lässt sich aber leider weder mit der psychologisch erforschten Risikowahrnehmung des Menschen noch mit dem sozial- oder gesellschaftswissenschaftlichen Risikoverständnis in Einklang bringen.

· Insofern bleibt der Risikobegriff des Arbeitsschutzes als Artefakt sozio-technischer Denkweisen des technisch-administrativen Systems ein Konstrukt, das sich der lebensweltlichen Erfahrung der nicht im methodischen Arbeitsschutz geschulten Menschen nicht hinreichend erschließt.

Risikowahrnehmung
Risikowahrnehmung hat für das sichere Verhalten von Mitarbeitern eine fundamentale Bedeutung, denn menschliches Verhalten hängt nicht von Tatsachen, sondern von Wahrnehmungen ab. Risikowahrnehmungen decken sich häufig nicht mit Experteneinschätzungen, aber sie folgen bestimmten konsistenten Grundmustern wie Flucht, Kampf, Totstellen oder Austesten. Der Konflikt über den Zustand „sicher“ oder „unsicher“ prägt deshalb auch die Konfrontationslinien des Arbeitsschutzdialogs und wird zur Frage der kulturabhängigen Risikoakzeptanz, wie Benighaus et al. (2011)8 eindrucksvoll zeigen. Es gibt eine Reihe von Ansätzen in der Risikowahrnehmungsforschung, die sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern als Elemente eines multifaktoriellen Zugangs zu einem vielschichtigen Phänomen betrachtet werden können.

· Unter Risikowahrnehmung versteht man unbewusste Prozesse individueller Informations- und Wahrnehmungsverarbeitung über Risiken, die im Bewusstsein des Informationsempfängers Vorstellungsbilder von wahrgenommenen Teilaspekten der Risiko-Wirklichkeit entstehen lassen.

· Neben Vorgängen des Auffassens, Erkennens und Beurteilens gehört dazu auch die willentliche Zuwendung der Aufmerksamkeit einer Person gegenüber dem Thema Risiko.

· Verschiedene Autoren wie Bradbury (1989)9 und Cvetkovich und Earle (1992)10 betonen das soziale Konstrukt von Risikointerpretationen und ihre Affinität zu verschiedenen Arten des Wissenserwerbs, der sozialen Interessen und kulturellen Werte.

· Auch existiert ein Denkmodell, bei dem kulturelle Prototypen zur Steuerung des Risikowahrnehmungsprozesses herangezogen werden. Nach diesem kulturtheoretischen Ansatz ist Risiko kein objektives Phänomen, das unabhängig vom Gefahrenkontext gemessen werden kann, sondern ein „soziales und kulturelles Konstrukt“ (Covello und Johnson 1987).11

Folglich kann jede Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppe ihre eigenen spezifischen Risiken kreieren, von denen angenommen wird, dass sie Anlass zur Besorgnis bieten, je nach vorherrschendem Weltbild.

· Es gibt also eine Reihe von gesellschaftlichen, kulturellen und organisatorischen Faktoren, die die Risikowahrnehmung beeinflussen und steuern.

· Vorstellungsbilder der Risikowirklichkeit sind stark geprägt von Erfahrung, Ausbildung, Wissen und dem sozialen Kontext eines Menschen.

· Mit anderen Worten: Die Ausprägung der Risikowahrnehmung eines Menschen ist in hohem Maße milieu- und kulturbedingt.

· Wie die Menschen Risiko erfahren und bewerten, ist daher eine Funktion ihrer kulturellen Anschauung und Werte.

Im Arbeitsschutz verlässt man sich deshalb nicht auf die subjektiven Mechanismen der Risikowahrnehmung.

· Dort gründet sich die Vorhersage physischer oder psychischer Auswirkungen wie Gesundheitsschäden oder Unfälle auf Handlungsmodelle, die ausgehend von Erfahrungen aus der Vergangenheit auf zukünftige Folgen extrapolieren.

· Das „Erklärungsmodell Verletzungen und Erkrankungen“ (BAuA, FaSi-Ausbildung) nimmt eine solche Modellierung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen vor.

· Dazu bedient es sich eines Satzes aller möglichen Gefährdungs- und Belastungsfaktoren, die multifaktoriell verknüpft sein können.

Risikobewertung
Ein derart analytisch ermitteltes Risiko von Unfällen oder Gesundheitsschäden wird in diesem Erklärungsmodell sowohl eingeschätzt als auch bewertet.

· Dabei dient die Risikoabschätzung der Beschreibung des Gesundheitsrisikos und einer fachkundlichen Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit und der möglichen Schadensschwere.

· Die anschließende Risikobewertung ist eine Entscheidung darüber, ob das bestehende Risiko akzeptabel ist oder ob Handlungsbedarf bezüglich zu treffender Maßnahmen besteht.

Dabei findet die Verhandlung grundsätzlich auf zwei Ebenen statt: Auf der sozio-technischen Ebene über die Definition von Grenzrisiken des Arbeitsschutzes und auf der sozialen Ebenen über das Risiko der Entscheider bei der Bewertung solcher Grenzrisiken im Zusammenhang mit notwendigen Schutzmaßnahmen, das sie selbst zu tragen haben, egal ob oder wie sie entscheiden.

Auch bei der qualitativen Bewertung von Risiken gibt es große individuelle Unterschiede.

· So werden bestimmte risikobezogene Bewertungsmerkmale wie die Natürlichkeit des Risikoursprungs (z. B. Erdbeben) oder die Gewöhnung (nach 30-jähriger Arbeit im Labor) als geringere Risiken gewertet, obwohl dies beim quantitativen Nachweis objektiv nicht der Fall ist.

· Andere situationsbezogene Bewertungsmerkmale wie Freiwilligkeit, persönliche Kontrollfähigkeit, gerechte Nutzen- und Risikoverteilung oder das Vertrauen in ein bestehendes Risikomanagement können dazu führen, dass auch objektiv hohe Risiken akzeptiert werden.

Außer Acht gelassen werden im sozio-technisch geprägten Risikobegriff des Arbeitsschutzes z. B. die Konsequenzen aus Erkenntnissen der nutzentheoretischen Entscheidungs- und Einstellungsforschung zur Risikobewertung und -akzeptanz.

· In diesem Kontext gibt es einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der technisch-administrativen und der wissenschaftlichen Sicht auf hinnehmbare Risiken.

· Insbesondere für Naturwissenschaftler gehört die Einlassung auf, teils sogar die bewusste Herbeiführung von Situationen mit offenem (riskantem) Ausgang mit der nutzengeleiteten Aussicht auf Erkenntnisgewinn zum Hauptinstrument evidenzbasierter Forschung. Dies entspricht der Natur des wissenschaftlichen Experiments.

· Diese Sichtweise gibt es im sozio-technisch geprägten Denkmodell zur Unfallentstehung im Arbeitsschutz nicht, weil sich hier die Abwägung zwischen dem nicht sicherheitsrelevanten Nutzen und dem objektiv überschrittenen Grenzri-siko a priori verbietet.

Es bleibt festzuhalten, dass die durch das Unfall-Erklärungsmodell gestützten Prozesse von Risikowahrnehmung und -identifikation bei Sicherheitsexperten aus dem technisch-administrativen System anders wahrgenommen werden als durch den stark milieu- und kulturbestimmten Risikowahrnehmungsprozess eines Wissenschaftlers. Hier stehen sich demnach bereits auf der kognitiven Ebene zwei völlig unterschiedliche Wahrnehmungsinstrumente gegenüber, die eine Verständigung über Risiken erschweren.

Auch bei sorgfältiger Gefährdungsbeurteilung resultiert (nicht nur) im Forschungsbetrieb die stets verbleibende Unsicherheit; es verbleibt ein niemals völlig verschwindendes Restrisiko. Durch die Neuartigkeit und schnelle Veränderlichkeit der im Forschungsbetrieb vorzufindenden Arbeitssysteme ist es aber oft nicht möglich, adäquate Referenzdaten zu finden, aus denen während der Risikoabschätzung sinnvolle statistische Folgerungen gezogen werden können. Außerdem können potenzielle Auswirkungen auch multifaktorielle Ursachen haben, die nur schwer vorhersagbar sind.

Unter diesen Prämissen muss das Akzeptanzproblem des sogenannten Grenzrisikos im Forschungsbetrieb gesehen werden. Als Grenzrisiko wird das höchste akzeptable Risiko definiert.

Soweit das Grenzrisiko durch einen de-finierten und gesetzlich verankerten Grenzwert bestimmt ist, wird es im wissenschaftlichen Bereich weitgehend akzeptiert. Weitgehend deshalb, weil sich unter fachkundigen Wissenschaftlern selbst hier Stimmen erheben, die eine kritische Haltung gegenüber der wissenschaftlichen Fundierung der Methode der Grenzwertermittlung inklusive der sozial vereinbarten Sicherheitszuschläge für bestimmte Bereichstransformationen einnehmen.

· Aber bereits in jenen Fällen, in denen das Grenzrisiko lediglich über eine qualitative Zielformulierung definiert wird, muss mit Diskussionen darüber gerechnet werden, ob überhaupt und, falls ja, welche Schutzmaßnahmen mit dem geringsten Beeinträchtigungspotenzial für die wissenschaftliche Arbeit als die angemessenen gelten.

· Besonders konfliktbeladen sind folgerichtig diejenigen Fälle, in denen das Grenzrisiko allein mit der Maßgabe des Einhaltens der Arbeitgeberpflichten nach Arbeitsschutzgesetz festgelegt werden muss. In der Regel bedarf diese Festlegung einer vollständigen Gefährdungsbeurteilung, in deren Verlauf es bei allen untersuchten Gefährdungs- und Belastungsfaktoren zwischen der technisch-administrativen und der wissenschaftlichen Seite mit großer Wahrscheinlichkeit zu unterschiedlichen Einschätzungen und Bewertungen von Risiken kommt.

Dabei ist wichtig, dass es sich beim Grenzrisiko tatsächlich um ein sozial vereinbartes bzw. sozial zu vereinbarendes Risiko handelt. In der praktischen Situation einer konkreten Gefährdungsbeurteilung ist deshalb zu beachten, dass nach Zwick und Renn (2002)12 die Wahrnehmung der Menschen von Bedrohungen ihres Wohlbefindens oder die Bewertung von Wahrscheinlichkeiten und Dimensionen ungewollter Folgen weniger eine Frage ermittelter Schadenserwartungen, sondern eine Frage von Werten, Einstellungen, gesellschaftlichen Einflüssen und der kulturellen Identität ist. Dieser Sachverhalt wird in der später diskutierten Risikokommunikation eine wichtige Rolle spielen.

Das Risikodilemma im Forschungsbetrieb
Das kulturbedingte Dilemma der Risikowahrnehmung im Forschungsbetrieb liegt damit offen vor uns:

· Einerseits will die Wissenschaft die Öffnung innovativer Handlungsstränge mit ihren neuartigen Risiken und Chancen verteidigen.

· Andererseits arbeitet die technisch-administrative Seite gleichzeitig an der Vorausbestimmung von Risiken, die sich aus diesen Handlungssträngen ergeben können.

· Die Wissenschaft fordert also mehr Handlungsspielräume, und die technisch-administrative Seite macht die Wissenschaft, die solche Räume schafft und damit Risiken produziert, für die mögliche Verwirklichung dieser Risiken verantwortlich.

Diese Konstellation hat eine innere Logik, die zwangsläufig dazu führt, dass Wissenschaftler Sicherheitsexperten als „Bremser“ oder „Verhinderer“ und z. B. Fachkräfte für Arbeitssicherheit Wissenschaftler als „Arbeitsschutzverweigerer“ oder „Sicherheitsignoranten“ wahrnehmen.

Bizarrerweise wird das jeweilige Gegenüber von den Beteiligten in ihrem eigenen System auch als faktisches Risiko wahrgenommen.

· Die Fachkraft für Arbeitssicherheit sieht durch den Wissenschaftler die Verhältnis- oder Verhaltensprävention im Forschungsbetrieb bedroht.

· Und der Wissenschaftler sieht durch eine zu restriktive Auslegung des Grenzrisikos und der damit verbundenen Schutzmaßnahmen den Handlungsspielraum bei seinen Forschungs-aktivitäten bedroht.

Damit lassen sich – unter zusätzlicher Einbeziehung des sozial definierten Risikos von arbeitsschutzverantwortlichen Entscheidern – in der Risikodebatte über Arbeitsschutzrisiken im Forschungsbetrieb drei völlig unterschiedliche Ebenen erkennen.

· Auf der ersten Ebene des Arbeitssystems existieren Risiken, die aus dem sozio-technisch geprägten Arbeitsschutz heraus definiert werden.

· Auf der zweiten Ebene der Führungskräfte wird das Risiko der Entscheider im Arbeitsschutz definiert, dass ihre getroffenen oder nicht getroffenen Entscheidungen in der Zukunft zu Grenzrisiko überschreitenden Risiken führen, die eben diesen Entscheidungen zugerechnet werden.

· Auf der dritten Ebene koexistierender sozialer Systeme und deren kulturgeprägten Systemkonfrontation geht es um die Deutungshoheit über Risiken und die jeweils verfügbaren Strategien und Mittel, diese Deutungshoheit durchzusetzen.

Diese dreifache Kontingenz des Risikos erweist sich als erhebliche Erschwernis bei der Kommunikation von und über Arbeitsschutzrisiken des Forschungsbetriebs.

Unbewältigte Kulturunterschiede verhindern Sicherheitskultur
Letztlich haben wir mit der Freilegung dieser dreifachen Kommunikationsbarriere auch die Antwort auf die Frage erarbeitet, warum es trotz großer Anstrengungen so schwer ist, im Forschungsbetrieb eine dauerhafte Sicherheitskultur zu etablieren.

Der Begriff „Sicherheitskultur“ umschreibt die sicherheitsrelevanten Aspekte in einer bestimmten Organisation oder innerhalb einer bestimmten Kultur. Konzeptionell existieren vielfältige Ansätze für diesen Begriff; eine der wenigen gut zusammengestellten und verständlichen Übersichten zum Kulturansatz des Begriffes „Sicherheitskultur“ geben z. B. Büttner et al., 200713. Der Begriff stellt sich als bislang nicht klar abgegrenztes und nicht einheitlich definiertes Konzept heraus, wobei sich jedoch viele dieser Konzepte dem hier eingeführten Kulturbegriff nicht entziehen, wenn sie dort unter dem Aspekt der Sicherheit Anschluss finden sollen.

Wenn hier dennoch aus der Vielzahl der Ansätze eine bestimmte Definition des Begriffes Sicherheitskultur herausgegriffen wird, dann hat das vorwiegend mit deren Nutzen für den hier diskutierten Zweck zu tun. Im Zusammenhang mit der Kommunikation von und über Risiken im Arbeitsschutz erscheint der von Florian (1993)14 definierte Begriff der Sicherheitskultur am vielversprechendsten zu sein. Danach ist Sicherheitskultur …

„ […] ein System von auf (Un-)Sicherheiten bezogenen Bedeutungen und Symbolen, die aus dem kollektiven Umgang mit Unsicherheiten resultieren, das in spezifischen symbolischen, mentalen und praktischen Formen zum Ausdruck kommt und das schließlich dazu dient, in einer bestimmten sozialen Gemeinschaft oder Gruppierung sicherheitsrelevante Wahrnehmungsmuster, Bewertungsstile und Wissensbestände sowie Handlungspraktiken und Artefakte zu erzeugen, mitzuteilen und weiterzuentwickeln.“

Zusammen mit der Betonung kognitiv-mentaler Aspekte des Verhaltens kommt in diesem Begriff der Sicherheitskultur insbesondere den sozialen und diskursiven Prozessen zur Entwicklung und Weitergabe einer Sicherheitskultur eine Schlüsselrolle zu. Dahinter verbergen sich auch wesentliche Elemente einer für den Arbeitsschutz modifizierten Methode einer erweiterten Risikokommunikation.

Hinsichtlich des Konzepts der hier verwendeten Definition einer Sicherheitskultur können aber bereits aus den bisherigen Überlegungen für den Arbeitsschutz in Forschungsbetrieben die folgenden Feststellungen getroffen werden:

1. Es gibt in den meisten Forschungsbetrieben keine kulturunabhängig anerkannten, auf Risiken oder Sicherheiten bezogenen Bedeutungen und Symbole. Diese könnten mit einer entsprechenden Leitlinie oder einem klaren Committment der wissenschaftlichen Leitung zwar etabliert werden, sind aber gerade dort häufig nicht gewollt.

2. Ein homogener kollektiver Umgang mit Unsicherheiten ist in Forschungsbetrieben nicht gegeben, weil dieser Umgang je nach betrachtetem Kulturkreis völlig unterschiedlich ist. Damit verbunden ist auch der Stellenwert des Arbeitsschutzes in diesen Kulturkreisen, der angefangen bei der Technikkultur über die Verwaltungskultur bis zur Wissenschaftskultur stetig abnimmt.

3. Deshalb fehlen auch gemeinsame mentale und praktische Ausdrucksformen für einen solchen Umgang. Unmittelbare Auswirkungen daraus sind u.a. unterschiedliche kulturspezifische Relevanz- und Prioritätsdeutungen bei der Feststellung und bei der Bewertung von Risiken im Arbeitsschutz.

4. Für alle sozialen Gemeinschaften oder Gruppierungen eines Forschungsbetriebes gültige und verbindliche sicherheitsrelevante Wahrnehmungsmuster, Bewertungsstile und Wissensbestände können sich auf dieser Basis nicht entwickeln, was gleichzeitig auch die Kommunikation von und über Risiken im Arbeitsschutz erschwert bzw. unmöglich macht.

5. Daran scheitern bisher in vielen Forschungsbetrieben auch die flächendeckende Implementierung wirksamer Handlungspraktiken im Arbeitsschutz (z. B. Gefährdungsbeurteilung, Unfallanalyse, Verhaltens- und Verhältnisprävention) sowie deren Kommunikation und die mit der dynamischen Entwicklung des Wissenschaftssystems Schritt haltende Anpassung solcher Handlungspraktiken.

Damit ist die Schlussfolgerung gerechtfertigt, dass die Sicherheitskultur in den meisten deutschen Forschungsbetrieben – falls man unter diesen Voraussetzungen überhaupt davon sprechen kann – im Vergleich zu ihrem Anspruch im Wissenschaftssystem völlig unterentwickelt und rückständig ist.

Peter Neurieder

Literatur

1. Benighaus, Luder; Ortleb, Julia; Renn, Ortwin: Risks, in: Pechan, Paul; Renn, Ortwin; Watt, Alan; Pongratz, Ingemar (eds.): Safe or not Safe? Deciding What Risks to Accept in Our Environment and Food, (Springer Science + Business Media) New York Dordrecht Heidelberg London 2011, pp 1–40, 146 pp.

2. Büttner Thorsten; Fahlbruch, Babette; Wilpert, Bernhard: Sicherheitskultur – Konzepte und Analysemethoden, 2. Auflage 2007, (Asanger Verlag GmbH) Kröning 2007, 156 S.

3. Bradbury Judith A.: The Policy Implications of Differing Concepts of Risk, in: Science, Technology, & Human Values, Vol. 14, No. 4, 1989, pp 380–399.

4. Covello, Vincent T.; Johnson, Branden B. (Hg.): The Social and Cultural Construction of Risk – Essays on Risk Selection and Perception, (D. Reidel Publishing Company) Dordrecht Boston Lancester Tokyo 1987, 360 p.

5. Cvetkovich, George; Earle, Timothy C.: Environmental Hazards and the Public, in: Journal of Social Issues, 48 (4), (John Wiley & Sons, Inc.) New Jersey 1992, pp 1–20.

6. Florian, Michael: Vorschläge für einen akteursorientierten Perspektivenwechsel der Sicherheitsforschung in vernetzten Systemen, in: Weißbach, Hans-Jürgen; Poy, Andrea (Hrsg.): Risiken informatisierter Produktion – Theoretische und empirische Ansätze, Strategien zur Risikobewältigung, (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Westdeutscher Verlag) Opladen 1993, S. 33–68, 372 S.

7. Genkova, Petia: Kulturvergleichende Psychologie – Ein Forschungsleitfaden, (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Springer Fachmedien) Wiesbaden 2012, 238 S.

8. Kemp, Peter: Das Unersetzliche – Eine Technologie-Ethik, (Wichern-Verlag GmbH) Berlin 1992, 322 S.

9. Sackmann, Sonja A.: Organisationskultur – Die unsichtbare Einflussgröße, in: Gruppendynamik, Jahrgang 14, H. 8, 1983, S. 393–406.

10. Schein, Edgar H.: Organizational Culture and Leadership, 4. Edition, (John Wiley & Sons Inc.) San Francisco 2010, 436 pp.

11. Weißbach, Hans-Jürgen; Florian, Michael; Illigen, Eva-Maria; Möll, Gerd; Poy, Andrea; Weißbach, Barbara: Technikrisiken als Kulturdefizite. Die Systemsicherheit in der hochautomatisierten Produktion, (edition sigma) Berlin 1994, 288 S.

12. Zwick, Michael M.; Renn, Ortwin (Hrsg.): Wahrnehmung und Bewertung von Risiken. Ergebnisse des »Risikosurvey Baden-Württemberg 2001«, Nr. 202 / Mai 2002, Gemeinsamer Arbeitsbericht der Akademie für Technikfolgenabschätzung und der Universität Stuttgart, Lehrstuhl für Technik- und Umweltsoziologie, (Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg) Stuttgart 2002, 192 S. 1

13. Büttner, Thorsten; Fahlbruch, Babette; Wilpert, Bernhard: Sicherheitskultur – Konzepte und Analysemethoden, 2. Auflage 2007, (Asanger Verlag GmbH) Kröning 2007, S. 29–62.

14. vgl.: Florian, Michael: Vorschläge für einen akteursorientierten Perspektivenwechsel der Sicherheitsforschung in vernetzten Systemen, in: Weißbach, Hans-Jürgen; Poy, Andrea (Hrsg.): Risiken informatisierter Produktion – Theoretische und empirische An-sätze, Strategien zur Risikobewältigung, (VS Verlag für Sozialwissenschaften, Westdeutscher Verlag) Opladen 1993, S. 50.

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