M. Albrod
Zusammenfassung
Die WHO befürchtet den Ausbruch einer Grippepandemie großen Ausmaßes. Es würden nicht nur Millionen Menschen erkranken, sondern es wären auch gravierende Einschnitte in die nationale, soziale und wirtschaftliche Integrität zu erwarten. Betriebsärzte können die Unternehmen im Vorfeld fachlich beraten und Maßnahmen zur Risikominderung einleiten. Auch eine Beteiligung an der Akutversorgung erkrankter Beschäftigter ist in Erwägung zu ziehen.
Stichworte: Grippepandemie Krisenplanung Betriebsärzte
Summary
The WHO is expecting an outbreak of a flu pandemic, resulting in millions of ill people and a tremendous impact on the integrity of states, social life and economics. Occupational physicians are requested to support the enterprises and assist them to reduce the risk to staff as far as possible. Depending on the specific situation and the respective commitment of the senior management doctors should consider a participation in the treatment of infected staff, too.
Key words: Flu Pandemic crisis management occupational physicians
Die Prognose einer Influenza-Pandemie
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) prognostiziert eine weltweite Influenzaepidemie (Pandemie). Die Frage ist nicht, ob diese Pandemie eintritt, sondern nur, wann das der Fall sein wird. Eine Vorstellung über das mögliche Ausmaß einer Pandemie liefert die Spanische Grippe von 1918/19, die 2050 Millionen Todesopfer weltweit gefordert hat. Auch die Pandemien 1957/58 (Asiatische Grippe) und 196870 (Hongkong Grippe) kosteten jeweils ca. 1 Million Menschen das Leben1. Die Letalität der Vogelgrippe liegt bei 50 %. Für Deutschland hat das Robert-Koch-Institut Modellrechnungen zur erwarteten Morbidität und Mortalität einer Influenza-Pandemie vorgelegt: Bei einem Worst Case Szenario einer 50%igen Morbidität wäre mit 600.000 Hospitalisierungen und über 150.000 Todesfällen zu rechnen1.
Klassische Symptome einer Influenza sind bei plötzlichem Erkrankungsbeginn Fieber, Husten, Kopfschmerzen sowie Muskel-, Gliederschmerzen, wobei sich weitere Beschwerden hinzu-gesellen können. Der Verlauf reicht von milden Formen bis zu schweren Sekundärkomplikationen mit letalem Ausgang. Im Rahmen einer Pandemie können abweichende Verläufe auftreten.
Die Auswirkungen einer Influenza-Pandemie
Die staatliche Infrastruktur und die Integrität des öffentlichen Lebens werden durch eine Pandemie bedroht. Die Versorgung der Bevölkerung mit Energie, Lebensmitteln, Trinkwasser und anderen essentiell notwendigen Gütern und Dienstleistungen ist erschwert. Die Aufrechterhaltung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung und nicht zuletzt der medizinischen Ressourcen und Hilfsmittel ist bedroht. Der öffentliche Personentransport wird eingeschränkt sein und der Reiseverkehr kann weitgehend zum Erliegen kommen. Kommunikation und Informationsweitergabe über Zeitungen, Radio und Fernsehen können beeinträchtigt sein. Der Handel wird großenteils stagnieren, der volkswirtschaftliche Schaden kann eine bis dahin ungekannte Dimension annehmen. Auch eine Panik in der Bevölkerung mit allen schwer kalkulierbaren Folgen ist denkbar.
Dem skizzierten Szenario unterliegen selbstverständlich auch die Unternehmen mit ihren Beschäftigten. Es ließe sich allenfalls darüber spekulieren, ob sich in Betrieben die Zahl der Erkrankungsfälle eher im unteren Bereich der einschlägigen Prognosen bewegen wird. Schließlich repräsentieren die Beschäftigten ausschließlich die Altersklasse der erwerbstätigen Bevölkerung und an vielen Arbeitsstätten vornehmlich das männliche Geschlecht und sind daher nicht repräsentativ für die allgemeine Bevölkerung. Auch besitzen chronisch Kranke, die in den Betrieben präsent sind, zumindest den gesundheitlichen Status der Arbeitsfähigkeit. Andererseits dürfte zu erwarten sein, dass die tatsächlichen Abwesenheitsquoten vom Arbeitsplatz deutlich höher liegen als die reine Erkrankungsrate an sich zunächst vermuten lässt. Denn die Beschränkungen im öffentlichen Personennahverkehr, Bindung durch familiäre Krankenbetreuung, Angst vor eigener Ansteckung am Arbeitsplatz oder auf dem Weg zur Arbeit und präventives Fernbleiben vom Arbeitsplatz würden die personellen Engpässe im Betrieb gleichzeitig signifikant erhöhen.
Es dürfte also keinen vernünftigen Grund geben, als Planungsgrundlage mit weniger als 30 % Abwesenheit vom Betrieb zu rechnen. Ob sich diese homogen auf die innerbetrieblichen Populationen verteilen wird oder ob es an regionalen Standorten und spezifischen Bereichen innerhalb der Standorte Kollektive mit besonderen Erkrankungshäufungen geben wird, kann naturgemäß nicht prognostiziert werden.
Präventive Maßnahmen auf betrieblicher Ebene
Die behördlichen Pandemieplanungen verfolgen zwar primär das Ziel des gesundheitlichen Schutzes der Bürger, d. h. der Reduktion von Morbidität und Mortalität in der Gesamtbevölkerung. Aber gleichzeitig sollen sie auch dazu dienen, die beschriebenen organisatorischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen zu mildern. Dazu bedarf es der aktiven Unterstützung durch alle gesellschaftlichen Strukturen. Im betrieblichen Kontext ist daher grundsätzlich zu postulieren, auch die Betriebsärzte als Experten in die Überlegungen und Planungen zum Krisenfall einzubeziehen.
Es ist zwischen den Unternehmen und den zuständigen Betriebsärzten individuell zu definieren, wo in der interpandemischen Phase und beim Ausbruch einer Pandemie Möglichkeiten und Grenzen der Betriebsärzte liegen und welche Aufgaben sie in ihren Betrieben wahrnehmen können. Dies wird großenteils auch von der Betriebsgröße und der Art der betriebsärztlichen Betreuung abhängig sein. Prinzipiell sollte es dabei als selbstverständlich betrachtet werden, dass der Betriebarzt als Dienstleister für das Unternehmen insbesondere in einer derart dramatischen Situation präsent ist und dazu beiträgt, die Beschäftigten so weit wie möglich zu schützen und gegebenenfalls auch Erkrankte qualifiziert zu behandeln und damit auch die Arbeitssicherheit und das berechtigte ökonomische Interesse am Fortgang der geschäftlichen Abläufe zu unterstützen.
Die betriebliche Prävention bedarf einer Betrachtung hinsichtlich des organisatorischen Krisenmanagements, der betriebsärztlichen Krisenorganisation und der medikamentösen Versorgung der Beschäftigten.
Organisatorisches Krisenmanagement
Auf der Ebene des Managements und der geschäftlichen Prozesse ist ein Krisenstab zu etablieren, der im Pandemiefall die akute Intervention im Betrieb vornimmt und alle erforderlichen Aktionen koordiniert. Die Kompetenzen, Vollmachten, Tagungsmodalitäten, Erreichbarkeiten und Kommunikationswege sind rechtzeitig festzulegen. Dem Krisenstab gehören Mitglieder der Geschäftsführung, des lokalen Managements, des Betriebsrats, der Personalabteilung, der Abteilungen Arbeitssicherheit, Objektschutz und Öffentlichkeitsarbeit und individuell weiterer relevanter betrieblicher Funktionen an. Zwingend ist auch der Betriebsarzt als festes Mitglied in den Krisenstab zu integrieren.
In ihrem weltweit greifenden Pandemieplan hat die WHO Pandemie-Szenarien definiert und den Phasen 0 bis 5 zugeordnet2. Die interpandemische Phase 0 ist zusätzlich in 3 Preparedness Level unterteilt. Aus den WHO-Dokumenten leiten sich weitere Pandemiepläne auf nationalstaatlicher, regionaler und kommunaler Ebene ab. Am Ende dieser Hierarchie stehen die Unternehmen, die spezifisch für ihre Bedürfnisse eigene Krisenpläne aufzustellen haben. Der für Deutschland gültige Pandemieplan des RKI1,3 leistet dabei wertvolle Hilfestellung.
Der Betriebsarzt befindet sich in der Rolle des fachlichen Beraters und hat das Unternehmen aktiv zu unterstützen. Das beinhaltet bereits in der interpandemischen Phase, dem Management fachliche Informationen zu präsentieren und die Beschäftigten über das Intranet, Rundschreiben und Firmenzeitung zum Thema aufzuklären.
Der betriebliche Krisenplan (emergency response, business continuity) wird sich zweckmäßigerweise an der behördlich vorgegebenen Phaseneinteilung orientieren. Im Sinne eines Stufenplans sind die betrieblichen Maßnahmen der lokal jeweils aktuellen Pandemiesituation anzupassen. Denkbare Elemente eines betrieblichen Pandemieplans können sein
Innerbetriebliche, standortübergreifende Information
Nachhaltige Bewerbung der betrieblichen Impfaktion gegen die saisonale Grippe
Regelmäßige Kommunikation mit den zuständigen Behörden
Fortlaufende medizinisch-epidemiologische Lagebeurteilung durch den Betriebarzt
Festlegung ausreichender Vertretungsregelungen für kritische Funktionen
Überprüfung raumlufttechnischer Anlagen hinsichtlich des Verbreitungspotentials für Viren
Organisatorische Vorbereitungen auf betriebsärztlicher Ebene
Einberufung des Krisenstabs
Einschränkung von Konferenzen, Reisen u.ä. so weit wie geschäftlich möglich, ggf. auch grundsätzliche Absage sämtlicher Konferenzen und Meetings
Bevorzugte Nutzung elektronischer Kommunikation
Verstärkte Nutzung von Home Offices
Reisen nur bei vitaler geschäftlicher Notwendigkeit nach ausdrücklicher Genehmigung und ggf. unter medikamentöser Prophylaxe
Beurlaubung der Auszubildenden und anderer nicht essentiell benötigter Mitarbeiter
Abschalten risikobehafteter raumlufttechnischer Anlagen
Einstellung des Kantinenbetriebs
Ausgabe von Atemmasken (enganliegende OP-Maske mit modellierbarem Nasenbügel oder FFP1-Masken) an alle Beschäftigten
Beurlaubung großer Mitarbeiterkontingente
Einstellung des Geschäfts- oder Produktionsbetriebes
Vorsorge bedeutet hinsichtlich einer Grippepandemie zunächst die Sicherstellung einer zeitnahen und qualifizierten Kommunikation der jeweils aktuellen Lage, der festgelegten Schutzmaßnahmen und der betrieblichen Strategie an die Beschäftigten. Die dafür genutzten Medien, beispielsweise das firmeninterne Intranet oder die betriebsärztliche Homepage, müssen allen Beschäftigten bekannt und zugänglich gemacht werden. Betriebsärztlich sind den Beschäftigten über diese Informationswege umgehend grundlegende seuchenhygienische Verhaltensmaßregeln zu vermitteln:
Meiden des öffentlichen Personennahverkehrs
Keine Teilnahme an Veranstaltungen (privat, öffentlich, Verein u. a.)
Menschenansammlungen (Kaufhaus, Kino, Theater, Disco etc.) meiden
Intensive Raumlüftung
Enge Räumlichkeiten (Aufzüge, Besprechungsboxen u. ä.) nicht benutzen
Körperlicher Abstand zu anderen Personen
Kein Handschlag als Begrüßung
Hände nach Kontakt und vor dem Essen stets gründlich waschen
Kontakt zu Erkrankten nach Möglichkeit vermeiden
Bei Unausweichlichkeit eines Kontaktes zu Erkrankten (z. B. im familiären Umfeld) gebotene Schutzmaßnahmen strikt einhalten
Ggf. Tragen von Atemmasken
Nicht anhusten oder anniesen (lassen)
Einmaltaschentücher benutzen und sicher entsorgen
Arztbesuche wegen nicht dringlicher Angelegenheiten nach Möglichkeit vermeiden
Ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeiten einhalten
Bei verdächtigen Symptomen (z. B. plötzliches, hohes Fieber; Kopf- und Gliederschmerzen; Husten) nicht an den Arbeitsplatz gehen, sondern sofortige Arztkonsultation, ggf. zunächst nur telefonisch
Hinweis auf weitergehende und tagesaktuelle Informationsquellen
Damit diese Informationen tatsächlich unmittelbar und zeitnah herausgegeben werden können, müssen sie gedruckt oder elektronisch abrufbereit vorliegen.
Pandemievorbereitungen im betriebsärztlichen Dienst
Der Betriebsarzt muss zunächst Vorsorge treffen, den epidemiologischen Hintergrund und den jeweils aktuellen Wissensstand zu besitzen sowie die verfügbaren Informationsquellen zu kennen und mit den einschlägigen medizinischen Fachinformationen vertraut zu sein. Dazu gehören auch das Infektionsschutzgesetz, die relevanten Abschnitte der Biostoffverordnung oder die Regeln der deutschen Post für den Probenversand. Wichtige Hinweise und Anforderungen finden sich auch im Beschluss 609 des Ausschusses für biologische Arbeitsstoffe (ABAS) Arbeitsschutz beim Auftreten von Influenza unter besonderer Berücksichtigung des Atemschutzes4.
Der Aufbau von Netzwerken firmenintern, im ärztlichen Kollegenkreis und mit behördlichen Stellen ist von großer Bedeutung. Die Gesundheitsämter, die offiziell benannten Erstversorgungszentren und Hilfsorganisationen müssen mit ihren Zuständigkeiten und Kapazitäten bekannt und intern dokumentiert sein. Hilfreich ist es, Kontaktpersonen persönlich zu kennen und einen direkten Zugang zu ihnen zu besitzen. Es ist sicherzustellen, dass im Krisenfall Kommunikationswege zu diesen Institutionen zur Verfügung stehen, die frei von Störungen und Überlastung sind.
Nicht nur, wenn der Betriebsarzt sich entscheidet, an der planmäßigen Akutversorgung erkrankter Beschäftigter teilzunehmen, sondern bereits im Rahmen der üblichen, im Umfang begrenzten betriebsärztlichen Sprechstunde sind Überlegungen zu infektionshygienischen Aspekten, eigener Expositionsprophylaxe und vorhandenen personellen Ressourcen anzustellen. Es ist zu prüfen, ob nicht auch im betriebsärztlichen Bereich Personen tätig sind, die als Risikopersonen zu identifizieren sind und daher keinen unmittelbaren Kontakt zu Influenza-Patienten haben sollten. Es ist zu fragen, ob gegebenenfalls Vertretungspersonal zusätzlich rekrutiert werden kann und ob betriebliche Ersthelfer oder andere Beschäftigte auf freiwilliger Basis zumindest zur administrativen Unterstützung gewonnen werden können. Die zeitliche Erreichbarkeit des betriebsärztlichen Teams ist in vertretbarem Rahmen (z. B. Arbeitszeitgesetz) den akuten Erfordernissen anzugleichen.
Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, Influenza-Patienten in abgesonderten Bereichen zu untersuchen und zu behandeln, um das Infektionsrisiko für gesunde oder anderweitig erkrankte Beschäftigte zu reduzieren. Die Ausstattung (Wasser, Möbel, Computer, Telefon, Umkleide etc.) und die erforderlichen Materialien (Thermometer, Kittel, Handschuhe, Brillen, Desinfektionsmittel, Rachenabstrichmaterial, Versandmaterial etc.) sind vorzuhalten oder zumindest in kürzester Zeit verfügbar zu machen. Verschließbare Abfallbehältnisse müssen in ausreichender Zahl vorhanden sein, der Abfall bedarf allerdings nach der Richtlinie über die ordnungsgemäße Entsorgung von Abfällen aus Einrichtungen des Gesundheitsdienstes5 keiner besonderen, von der betriebärztlichen Routinepraxis abweichenden Behandlung.
Um einem Massenanfall von gleichartig erkrankten Patienten auch organisatorisch gewachsen zu sein, empfiehlt sich die Nutzung eines standardisierten Befund- und Behandlungsbogens, auf dem alle zutreffenden Angaben jeweils nur angekreuzt werden müssen. Auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sollten als Vordruck vorliegen. Mit den Krankenversicherungen und dem Arbeitgeber ist abzuklären, ob diese betriebsärztlich ausgefüllten Bescheinigungen anerkannt werden und auch hinsichtlich Entgeltfortzahlung und anderer Aspekte wie eine Krankschreibung durch Vertragsärzte gehandhabt werden. Sollte ein Versand von Probenmaterial notwendig werden, müssten auch dafür die erforderlichen Begleitpapiere bereit liegen.
Für die Behandlungen von Patienten, die zwangsläufig mit einem unmittelbaren Kontakt einhergehen und dadurch das Infektionsrisiko für betriebsärztliches Personal beträchtlich erhöhen, sind Schutzkittel, Schutzbrille, Einweghandschuhe und ein Mund-Nasen-Schutz (FFP2) vorzusehen. FFP2-Masken zählen zu den Atemschutzgeräten der Gruppe 1 (Partikelfiltergeräte der Klassen P 1 und P 2 bei Auftreten von gesundheitsgefährlichen Stäuben), vor deren Benutzung nach den Auswahlkriterien für die spezielle arbeitsmedizinische Vorsorge nach dem berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G 26 Atemschutzgeräte6 eine Untersuchung des Geräteträgers erforderlich ist.
Medikamentöse Influenza-Vorbeugung im Betrieb
Zu den Basismaßnahmen im Vorfeld einer Influenza-Pandemie rechnet die Impfung gegen die saisonale Grippe. Betriebsärzte sollten über geeignete Kommunikationswege versuchen, möglichst viele Beschäftigte vom Sinn einer Teilnahme daran zu überzeugen, ohne dabei unbegründete Ängste auszulösen. In Ländern wie Hamburg wird die Grippe-Impfung offiziell nach § 20 Abs. 3 Infektionsschutzgesetz empfohlen7. Die Impfung sollte ausdrücklich auch allen Beschäftigten, die nach Asien reisen, dringend empfohlen werden. Dass sich die Betriebsärzte und ihre Mitarbeiter selbst impfen lassen, sollte selbstverständlich sein.
Eine pandemische Vakzine wird dagegen als Instrument der Vorbeugung voraussichtlich nicht zur Verfügung stehen. Ihre Entwicklung, Zulassung, Produktion und Vertrieb werden Monate in Anspruch nehmen. Die Distribution eines Impfstoffs würde staatlich kontrolliert und geregelt werden. Es ist somit äußerst ungewiss, welchen Zeitraum eine flächendeckende Durchimpfung der Bevölkerung in Anspruch nehmen würde. Die Beschäftigten könnten vermutlich nicht rechtzeitig geimpft werden.
Auch gegen Pneumokkoken sollten Beschäftigte, die zu den von der STIKO genannten Risikogruppen gehören oder älter als 60 Jahre sind, geimpft werden8. Denn im Pandemiefall ist bei den Erkrankten auch mit einer hohen Anzahl an bakteriellen Superinfektionen der Lunge zu rechnen, die u. a. durch Streptococcus pneumoniae hervorgerufen werden. Die Impfung reduziert somit das Risiko einer schweren Sekundärkomplikation.
Als antivirale Prophylaxe stehen Neuraminidasehemmer zur Verfügung1, denen bei täglicher Einnahme in gewissem Umfang ein Schutz vor einer klinisch manifesten Infektion attestiert wird9. Angesichts begrenzter Produktionskapazitäten und langer Lieferzeiten stellt sich bereits in der interpandemischen Phase die Frage, ob und in welchem Umfang Betriebsärzte diese Medikamente für präventive Zwecke bevorraten sollten. Da eine Bevorratung für eine Großzahl von Beschäftigten weder mengenmäßig kalkulierbar noch medizinisch vertretbar (Ausgabemodalitäten, ärztliche Kontrolle, Erfassung von Nebenwirkungen) oder gar finanzierbar sein dürfte, wird zu entscheiden sein, für welche Beschäftigten die medikamentöse Prohylaxe im Sinne einer Priorisierung beschafft werden soll. Da die Aufrechterhaltung der betriebsärztlichen Versorgung im vitalen Interesse aller Beschäftigten liegen dürfte, sollte betriebsärztliches Personal selbst an erster Stelle berücksichtigt werden. Ferner ist an ältere Beschäftigte und altersunabhängig an Risikopatienten sowie an besonders exponierte Personen (Reisende, Objektschutz) und an Personen, die für die Kontinuität des Betriebsablaufs (Krisenstab, Geschäftsführung, Arbeitnehmervertretung, Personalabteilung, zentrale Operaterfunktionen, Messwartenpersonal etc.) eine zentrale Bedeutung haben, zu denken. Der Influenzaprophylaxe der genannten Berufsgruppen sollte ein besonderer Stellenwert eingeräumt werden, um die Funktionsfähigkeit des Unternehmens aufrechterhalten zu können.
Medikamentöse Influenza-Behandlung im Betrieb
Im Falle des Pandemieausbruchs sollten Betriebsärzte ihre kollegiale Kooperation anbieten und soweit wie möglich an der Akutversorgung der Erkrankten teilnehmen. Die ärztliche Berufsethik gebietet, Patienten erforderliche Hilfe zukommen zu lassen, und auch Betriebsärzte sind Ärzte, die sich dieser Verantwortung nicht entziehen dürfen. Es ist vorgesehen, Influenza-Patienten möglichst lange ambulant zu versorgen, um die stationären Kapazitäten nicht zu überfordern. Da hier auf jeden Fall Versorgungsengpässe zu befürchten sind, wäre es kaum vertretbar, mit Hinweis auf den präventiven Charakter der Arbeitsmedizin die notwendige Kooperation zu unterlassen und die Unterstützung des Gesundheitssystems zu verweigern. Denn der Worst Case würde ein katastrophenmedizinisches Szenario bedeuten, welches nur beherrscht werden kann, wenn in ausreichendem Umfang ärztliche Ressourcen verfügbar sind.
Neben einer symptomatischen medikamentösen Therapie der Influenza und einer Behandlung auftretender Sekundärkomplikationen bieten sich auch Neuraminidasehemmer zu therapeutischen Zwecken an1,10 und ermöglichen in einem gewissen Umfang eine Verkürzung der Erkrankungsdauer und eine Reduzierung von Sekundärkomplikationen. Weil sie allerdings im Pandemiefall nur knapp verfügbar sein werden, haben die Länder über eine Bevorratung diskutiert. Auf einem Beschluss der 78. Gesundheitsministerkonferenz der Länder vom 1. 7. 200511 basierend haben die Bundesländer jedoch uneinheitliche Bevorratungsstrategien für Neuraminidasehemmer entwickelt (Dabei wird anerkannt, dass es unterschiedliche Positionen zwischen den Ländern zu Art, Umfang und Notwendigkeit der Beschaffung gibt). Eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung dürfte in den meisten Ländern damit letztlich nicht gewährleistet sein.
Neben der Klärung der logistischen Kapazität der betriebsärztlichen Abteilungen ist mit dem Unternehmer die Frage zu beraten, ob angesichts der begrenzten Verfügbarkeit des Medikaments im Pandemiefall ein Vorrat für Therapiezwecke anzulegen ist. Der Umfang der erforderlichen Lagerhaltung würde sich in Grenzen halten können, weil der Großteil der erkrankten Beschäftigten wie gewohnt den eigenen Hausarzt konsultieren wird. Trotzdem könnte die Beteiligung der Betriebsärzte an der medizinischen Versorgung Erkrankter äußerst nützlich sein, denn die Kapazitäten der vertragsärztlichen ambulanten Versorgung dürften bei einer Pandemie an ihre Grenzen stoßen. Zum einen wäre eine ungeheure Zahl von Patienten zu untersuchen und es wären voraussichtlich auch zahlreiche Hausbesuche erforderlich. Zum anderen ist zu befürchten, dass es gerade im Bereich der medizinischen Berufe, insbesondere der ärztlichen Kollegen, wegen der großen Ansteckungsgefahr zu personellen Ausfällen kommen wird.
Gegen die Bevorratung von antiviralen Medikamenten durch Betriebsärzte könnten Argumente wie
die Frage der Abgabemodalitäten
die klare Grenzziehung der betriebsärztlichen Zuständigkeit (Familienangehörige?) und Möglichkeiten (Hausbesuche? Therapieüberwachung? Krankenhauseinweisung?)
die erforderliche Größenordnung der Bevorratung von Medikamenten
die ethische Vertretbarkeit gegenüber der Allgemeinbevölkerung
und nicht zuletzt Kostenaspekte und Verhältnismäßigkeit einer solchen Entscheidung
sprechen. Auf der anderen Seite stehen Gesichtspunkte, die nicht weniger schwer zu gewichten sind:
Eine suffiziente Therapie der Influenza ist ohne den Einsatz von Neuraminidasehemmern in Frage gestellt.
Die Kosten der Bevorratung dürften einen Bruchteil der Kosten darstellen, die durch eine extrem hohe Abwesenheitsquote im Betrieb und die resultierenden geschäftlichen Einbußen zu erwarten wären.
Die Influenzapandemie würde ein katastrophenmedizinisches Szenario darstellen, in dem eine Priorisierung moralisch und ärztlich ethisch vertretbar wäre.
Basierend auf den vom RKI veröffentlichen Szenarien ließe sich mit einer akzeptablen Ungenauigkeit die erforderliche Menge der Medikamente kalkulieren.
Die Ausgabe von Medikamenten wäre den Betriebsärzten vorbehalten, sie könnten durchaus auch mögliche Nebenwirkungen überwachen.
Hohe Standards im betrieblichen Gesundheitsschutz und Responsible care für die Beschäftigten werden sichtbar belegt.
Es liegt im unternehmerischen Interesse, wirtschaftliche Einbußen zu beschränken und das Arbeitssicherheitsrisiko zu minimieren.
Der nationale Pandemieplan formuliert : Die Abgabe sollte auf regionaler Ebene durch den ÖGD koordiniert und kontrolliert geschehen. Die situationsangepasste Möglichkeit der Delegation an Arbeits-/Betriebsmedizinischen Dienste sollte genutzt werden1.
Wenn sich Betriebsarzt und Unternehmen darauf verständigen, eine betriebsärztliche Akutversorgung der Beschäftigten zu implementieren, dann sollte mit den zuständigen Krankenversicherungen abgestimmt werden, ob die Kosten der Therapie nachträglich erstattet werden und damit die Aufwendungen der möglicherweise längerfristigen Lagerhaltung teilweise kompensiert werden können. Falls die betrieblich verfügbaren Dosen der Neuramidasehemmer limitiert wären, müsste auch im Rahmen einer Therapie eine Priorisierung durchgeführt werden, wie sie bei der prophylaktischen Anwendung diskutiert wurde.
Schlussfolgerung
Eine Influenzapandemie stellt eine Herausforderung auch an die Betriebsärzte dar. Sie können durch angemessene innerbetriebliche Planungen, bedarfsgerechte Beratung der Unternehmen und gegebenenfalls durch eine Beteiligung an der Akutversorgung von Patienten dazu beitragen, dass eine suffiziente medizinische Versorgung aufrecht erhalten bleibt, Morbidität und Mortalität in der Bevölkerung minimiert werden und die Fortführung von Handel, Produktion und Versorgung auf einem gewissen Level gewährleistet bleibt.
Literatur
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1. http://www.who.int/csr/resources/publications/influenza/
3. RKI: Nationaler Pandemieplan Teil III Juli 2005. http://www.rki.de
4. Ausschuss für biologische Arbeitsstoffe (ABAS): Beschluß 609 Arbeitsschutz beim Auftreten von Influenza unter besonderer Berücksichtigung des Atemschutzes.
4. http://www.baua.de/prax/abas/abas_akt.htm
5. Bund-/Länderarbeitsgemeinschaft Abfall: Mitteilung 18 Richtlinie über die ordnungsgemäße Entsorgung von Abfällen aus Einrichtungen des Gesundheitsdienstes, Januar 2002.
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6. BGI 504-26 (ZH 1/600.26) Auswahlkriterien für die spezielle arbeitsmedizinischeVorsorge nach dem Berufsgenossenschaftlichen Grundsatz G 26 Atemschutzgeräte1998.
5. http://www.arbeitssicherheit.de/servlet/PB/menu/
7. Die Behörde für Wissenschaft und Gesundheit: Anordnung über öffent-lich empfohlene Schutzimpfungen und über die Durchführung unentgeltlicher Schutzimpfungen. In: Justizbehörde der Freien und Hansestadt Hamburg: Amtlicher Anzeiger, Teil II des Hamburgischen Gesetz- und Verordnungsblattes 2005 Nr. 17, 415416
8. RKI: Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) an Robert-Koch-Institut / Stand: Juli 2005. Epid. Bull. 2005, 30
9. Ward, Penelope, I. Small, J. Smith, P. Sute, R. Dutkowski: Oseltamivir (Tamiflu) and its potential for use in the event of an influenza pandemic. Journal of Antimicrobial Chemotherapy (2005) 55, Suppl. S1, i5i21
10. Nicholson, K.G., F.Y. Aoki, A.D.M.E. Osterhaus, S. Trottier, O. Carewicz, C.H. Mercier, A. Rode, N. Kinnersley, P. Ward: Efficacy and safety of oseltamivir in treatment of acute influenza: a randomised controlled trial. The Lancet, 355, 2000, 18451850
11. Gesundheitsministerkonferenz der Länder: Beschluss der 78. Gesundheitsministerkonferenz vom 1.7.2005, TOP 8.2 Weitere Umsetzung des Aktionsplans von Bund und Länder zur Vorbereitung auf eine mögliche Influenzapandemie. http://www.gmkonline.de
Anschrift des Verfassers Dr. med. Manfred Albrod Shell Deutschland Oil GmbH 22284 Hamburg Suhrenkamp 7177 Leitender Betriebsarzt