Im Pflegedienst deutscher Krankenhäuser fehlen schätzungsweise gut 100.000 Vollzeitstellen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Expertise. Zwei geplante Gesetzesregelungen aus dem Haus von Gesundheitsminister Jens Spahn sollen nun für „ausreichend“ Pflegepersonal sorgen. Die vorliegenden Entwürfe des Bundesgesundheitsministeriums werden die große Personallücke aber nicht schließen, zeigt die Studie von Prof Dr. Michael Simon, Pflegeexperte von der Hochschule Hannover.
So setze die geplante „Pflegepersonaluntergrenzen-Verordnung“ (PpUGV) „die Linie der vorherigen Regierungen fort und verweigert Vorgaben, die eine bedarfsgerechte Personalbesetzung zum Ziel haben“, kritisiert Simon. Der vorliegende BMG-Entwurf für ein „Pflegepersonal-Stärkungsgesetz“ (PpSG) enthält nach Analyse des Forschers zwar einige positive Ansätze. Allerdings gehe er an einem entscheidenden Punkt in die falsche Richtung: Er nutze nicht die vorhandenen Möglichkeiten, den Personalbedarf realitätsnah auf Basis der in den Krankenhäusern behandelten Patienten zu erheben. Statt dessen beziehe er sich auf pauschale Kostengrößen, die unabhängig vom realen Pflege- und Personalbedarf kalkuliert werden. „Ein solches System kann somit bestenfalls nur die bestehende Personalbesetzung reproduzieren. Und das heißt im Fall des Pflegedienstes, die bestehende Unterbesetzung festzuschreiben“, warnt der Wissenschaftler, der am kommenden Mittwoch bei einer Expertenanhörung im Bundestag zu den Gesetzentwürfen Stellung nehmen wird. In seiner Studie skizziert Simon auch Alternativmodelle. Sie stützen sich auf Datenerhebungen, die in den 1990er Jahren bereits flächendeckend in deutschen Krankenhäusern durchgeführt worden sind.
Über mehr als zwei Jahrzehnte stand die Kostendämpfung bei der pflegerischen Ausstattung in deutschen Kliniken absolut im Vordergrund, zeigt Simons Analyse: Während die Zahl der behandelten Fälle im Krankenhaus seit Anfang der 1990er Jahre um mehr als 20 Prozent gestiegen ist und vermehrt betagte Patienten mit erhöhtem Pflegebedarf ins Krankenhaus kommen, wurden in den Jahren zwischen 2002 und 2007 rund 33.000 Arbeitsplätze in der Pflege gestrichen. Ein wesentlicher Treiber dafür war die Einführung eng kalkulierter Fallpauschalen. Auch wenn sich der Trend mittlerweile gedreht hat, bleibt eine enorme Lücke.
Wie groß sie näherungsweise ist, berechnet der Pflegeexperte, indem er auf Daten aus der Pflege-Personalrechnung (PPR) zurückgreift. Für die PPR mussten in den 1990er Jahren alle Krankenhäuser nach einem einheitlichen Verfahren erheben, wie groß der Pflegebedarf der Patienten auf ihren Stationen war. So ließ sich realitätsnah und detailliert berechnen, wie viel Personal notwendig ist. Schon damals ergab sich ein beträchtlicher Mehrbedarf von rund 60.000 Stellen. 1996 wurde die PPR auf Betreiben der Krankenkassen ausgesetzt – in vielen Häusern werde sie für die interne Einsatzplanung aber nach wie vor verwendet und genieße hohe Akzeptanz, stellt Simon in der Studie fest.
Der Forscher hat auf PPR-Basis fortgeschrieben, wie sich Stellenzuwächse und -abbau zwischen 1993 und 2016 auf die Personalsituation ausgewirkt haben und zusätzlich kalkuliert, welche Folgen die Zuwächse bei der Patientenzahl und die demografischen Veränderungen hatten. Ergebnis seiner Schätzung: 2016 fehlten im Pflegedienst der Krankenhäuser bundesweit mindestens 108.000 Vollzeitkräfte. Für die im Pflegedienst Beschäftigten sei damit oft eine Überlastung vorprogrammiert, erklärt der Experte. Viele reagieren darauf, indem sie ihre Arbeitszeit reduzieren oder die Krankenhäuser verlassen, was Personalengpässe wiederum verschärfe. Für kranke Menschen könnten die Konsequenzen dramatisch sein: „Wenn notwendige Prophylaxen nicht ausreichend durchgeführt werden können oder die Überwachung von Patienten in kritischen Situationen, beispielsweise nach einer Operation, nicht ausreichend gewährleistet ist, kommt es zu Komplikationen oder werden schwere Komplikationen zu spät erkannt.“
Deshalb sei es absolut richtig, dass die Bundesregierung nun gegensteuern wolle, betont Simon. Allerdings müsse das mit den richtigen Instrumenten geschehen, um mehr zu leisten als geringfügige Verbesserungen. Die vorliegenden Entwürfe wiesen große Defizite auf. So sei die in der PpUGV definierte Untergrenze viel zu niedrig. Der Verordnungsentwurf verlange nämlich lediglich, dass das Viertel der Krankenhäuser mit der schlechtesten Personalausstattung auf das Niveau an der Grenze zum zweitschlechtesten Viertel aufstockt und die dabei erreichte Marke danach von keiner Klinik mehr unterschritten wird. Zudem soll die Untergrenze nur für Stationen der Intensivmedizin, der Geriatrie, der Unfallchirurgie und der Kardiologie gelten, was dem Bedarf und dem fächerübergreifenden Ansatz in vielen Kliniken längst nicht gerecht werde.
Positiver wertet der Forscher die grundsätzliche Stoßrichtung des PpSG. So sei es wichtig, dass in Zukunft Tariferhöhungen voll refinanziert und der Druck auf die Finanzierung der Pflege gemildert werde, indem das Budget dafür aus den Fallpauschalen ausgegliedert werden soll. Allerdings sehe das geplante Gesetz kein geeignetes Instrumentarium vor, um alternativ den wirklichen Bedarf in der Pflege zu ermitteln. Stattdessen bleibe es auf der Ebene abstrakter Pauschalen, die die reale Situation um so schlechter abbilden, je weniger sie sich an einzelnen Kliniken und stattdessen an regionalen oder bundesweiten Durchschnitten orientieren. Ein gravierendes Defizit, zumal es mit der PPR eine wirklichkeitsnahe Methode und bereits erprobte Methode gebe.
In seinen Alternativmodellen schlägt Simon daher vor, die PPR flächendeckend zu reaktivieren und zum Maßstab für die notwendige Personalausstattung auf allen Stationen zu machen. Dazu müsste das erprobte Instrument weiterentwickelt und an die aktuelle Situation angepasst werden, schließlich hat sich das demografische Profil der Patientinnen und Patienten ebenso verändert wie das Therapiespektrum. Dafür veranschlagt der Forscher mindestens zwei Jahre, weshalb die Umsetzung rasch beginnen sollte. Da sich die Möglichkeiten der Datenverarbeitung und die IT in Kliniken fortentwickelt haben, sei die Erhebung und Analyse der für die Personalplanung nötigen Daten erheblich leichter als noch in den 1990er Jahren. Und Aufsichtsbehörden könnten künftig ohne großen Aufwand kontrollieren, ob Kliniken den nötigen Personalschlüssel wirklich erfüllen – zum Wohle von Patienten und Beschäftigten.
Hans-Böckler-Stiftung
Düsseldorf